Ein Kandidat für die Schicksalsgemeinschaft

Kohls Nachfolger empfiehlt sich als erster Diener des Staates und flexibler Nationalist

Seit langem gilt er als Kohls designierter Nachfolger. Schon 1991 sagte der Kanzler: "Es läuft alles auf ihn zu. Ich sehe keinen anderen." Und Anfang diesen Jahres ließ er selbst durchblicken: Würde ihm das Amt des Regierungschefs zugetragen, könnte er "der Versuchung nicht widerstehen". Dennoch löste es eine Flut von Spekulationen und aufgeregten Reaktionen aus, als Kohl nach dem CDU-Parteitag am 15. Oktober aussprach, was ohnehin jedem bekannt war: "Ich wünsche mir, daß Wolfgang Schäuble einmal Bundeskanzler wird."

Einen genialen Schachzug witterten die Kommentatoren zunächst. Eine Spekulation war, Kohl wolle in der Mitte der Amtszeit den Kanzlerposten an Schäuble übergeben, auf daß sich dieser für den darauffolgenden Wahlkampf profilieren könne. Außerdem wolle sich Kohl so die Loyalität des ehrgeizigen Fraktionschefs sichern. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sah den Blick auf die Zukunft der Union sich öffnen und jubelte: "Die Sozialdemokraten haben keinen Kanzlerkandidaten (...). Die Union aber hat einen Kanzler, einen Kandidaten und einen Nachfolger dazu."

Doch einen Tag später war klar, daß Kohl eine Personaldiskussion losgetreten hatte, die für ihn zum Bumerang werden könnte. Er bemühte sich, die Wogen zu glätten: Er trete 1998 selbstverständlich für eine ganze Legislaturperiode an, er sei keinesfalls "ein Kanzler auf Abbruch". Doch so recht wollte ihm das niemand glauben. "Einen solchen Schritt kündigt man nicht an, wenn man volle vier Jahre durchmachen will", erklärte Hamburgs CDU-Chef Ole von Beust. Die SPD höhnte, Kohl habe offenbar erkannt, daß er die Wahl nicht mehr allein gewinnen könne. Und Grünen-Sprecher Jürgen Trittin vermutete, die Union bereite sich auf ein Verschwinden der FDP vor, das Kanzlerwort sei eine Vorbereitung auf eine Große Koalition unter dem Kanzler Schäuble.

Doch die schärfsten Reaktionen kamen aus der CSU. Ihr Parteivorsitzender Theodor Waigel betonte, die Frage nach Kohls Nachfolger stehe überhaupt nicht an. Wenn es so weit sei, dann würden CDU und CSU "gemeinsam, jeweils in ihrer Eigenständigkeit und Souveränität, den Kanzlerkandidaten bestimmen". Andere wurden deutlicher. Schäuble sei ein "Übertaktierer", zitiert die Nachrichtenagentur AFP CSU-Kreise. Außerdem wolle er für den Euro notfalls die Maastricht-Kriterien aufweichen. Für eine Kanzlerschaft sei er auch deshalb nicht geeignet, zitiert AFP die anonymen CSU-Politiker weiter, weil er wegen seiner Querschnittslähmung ein geschwächtes Immunsystem habe.

Die Angriffe aus der CSU kommen auf den ersten Blick überraschend. Lange Zeit galt Wolfgang Schäuble als rechter Scharfmacher in der Union. 1993 ist er eine der treibenden Kräfte bei der drastischen Einschränkung des Asylrechts. Ein Jahr später schlägt er die nächste Grundgesetzänderung vor. Er will ermöglichen, daß die Bundeswehr auch bei einer "größeren Sicherheitsbedrohung im Inneren" eingesetzt werden kann. Als Beispiel für mögliche Bedrohungen verweist Schäuble auf die "internationalen Wanderungsbewegungen". Doch die ideologische Hauptsorge des zweiten Manns in der CDU gilt dem Nationalgefühl der Deutschen. Beispielhaft dafür fordert er in seiner Rede auf dem CDU-Parteitag 1993 in Berlin: "Wir müssen uns des Gefühls unserer nationalen Zusammengehörigkeit wieder sicherer und gewisser machen." Der Staat müsse als "Schutz- und Schicksalsgemeinschaft" verstanden werden. Das Pflichtgefühl müsse gestärkt werden, erklärt Schäuble und erinnert daran, "daß Friedrich der Große der erste Diener seines Staates sein wollte". Seine Beschwörung der nationalen Gemeinschaft gipfelt in dem Satz: "Unser Vaterland könnte sehr viel mehr Patriotismus brauchen." Daß dieses Vaterland nicht mit den heutigen Staatsgrenzen zusammenfällt, macht Schäuble bereits 1992 vor Korpsstudenten in Halle deutlich: Er bedauere es, "zu den neuen Bundesländern statt Mitteldeutschland Ostdeutschland" sagen zu müssen, obwohl doch "wir alle wissen, daß Ostdeutschland noch weiter östlich liegt". Mit seiner Aufbauarbeit in Sachen Nationalgefühl will der Fraktionschef der CDU/CSU nicht nur Deutschland im wirtschaftlichen Standortwettbewerb fit machen, engagierte Diener der Nation braucht er auch fürs Militär. Deshalb bemängelt er die Ablehnung jeglicher Art "existentieller Inpflichtnahme", ablesbar an der mangelnden Begeisterung für weltweite Bundeswehreinsätze. Ein liberaler Verfassungspatriotismus ist ihm eine "zu dürre rationale Grundlage" für seine deutsche Schicksalsgemeinschaft. Konsequenterweise ist ihm alles suspekt, was anderen als Beleg für die Zivilisierung der Deutschen dient: "Individualisierung der Lebensstile", Distanz gegenüber dem Staat, Vorrang des Privaten vor dem Nationalen.

"Schäuble treibt das Spektrum nach rechts", konstatierte 1994 der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff. Heute geht die Kritik des Koalitionspartners am Fraktionsvorsitzenden der CDU/CDU in

eine andere Richtung: "Mit Schäuble droht eine Sozialdemokratisierung der Wirtschaftspolitik." So faßt der Vorsitzende der Jungen Liberalen, Michael Kauch, jetzt die Vorbehalte der FDP gegen Kohls Kronprinzen zusammen. Und der CSU ist Schäuble inzwischen zuwenig national: Edmund Stoiber geriet in Rage, als Schäuble Anfang September ein Fraktionspapier zum Euro vorlegte. Darin wird die D-Mark als "Morgengabe" für Europa bezeichnet und eine Festlegung auf die 3,0 beim Defizitkriterium vermieden.

Was ist los? Hat Schäuble seinen nationalen Biß verloren? Oder geht es nur um eifersüchtige Personalpolitik in der Regierungskoalition? Schäubles Argumentationsmuster jedenfalls sind die gleichen geblieben. Auch in seiner jüngsten Rede auf dem CDU-Parteitag bemüht er das Motto von John F. Kennedy "Frag nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frag, was Du für Dein Land tun kannst". Gegen die Verunsicherung durch die Globalisierung empfiehlt er Wertevermittlung in Erziehung, Familie und Schule; für den "inneren Halt" des Menschen "überschaubare Gemeinschaften, Familie, Nachbarschaft, Vereine, Kirchengemeinden, Dorf, Stadt oder Herkunftsregion, Heimat".

Daß Schäuble in letzter Zeit etwas weniger nationalen Pathos in seine Worte legt, läßt nicht auf einen grundsätzlichen Gesinnungswandel schließen. Im Gegensatz zu waschechten Rechtsextremen und Faschisten war für ihn die "Nation" nie etwas biologisch Gegebenes, dem der Staat zu seinem Recht verhelfen muß. Für Schäuble gilt eher das Gegenteil:

Der Staat muß ständig die Nation als Schicksalsgemeinschaft konstruieren, um das Volk bei der Stange zu halten. "Nur gemeinsame Werte und auch die nationale Zusammengehörigkeit können unserem Staat Stabilität verleihen", stellt er 1993 fest. Schäuble ist in erster Linie ein pragmatischer Machtpolitiker, der den Nationalismus benutzt, damit der Laden nicht auseinander fliegt. Seiner Meinung nach müssen sich die Menschen im nationalen Kollektiv aufgehoben fühlen, weil sie nur so die Zumutungen begeistert mitmachen, die notwendig sind, um den Standort Deutschland "fit zu machen für die Zukunft". Aus dieser Logik heraus bereitete es Schäuble denn auch keine Probleme, auf Euro-Kurs einzuschwenken. Schließlich "profitieren wir als exportstärkstes Land am meisten, wenn die Wechselkursrisiken ausgeschaltet werden", wie er auf dem CDU-Parteitag sagte.

Was CSU und FDP gleichermaßen an Schäubles öffentlicher Ausrufung zum Kronprinzen störte, ist seine Offenheit für eine Große Koalition. Ganz im Sinne seiner nationalen Schicksalsgemeinschaft, hatte er schon vor kurzem erklärt, eine solche Koalition sei keine Katastrophe. Und bei den Verhandlungen um die Steuerreform im September machte er den Sozialdemokraten ein weitgehendes Angebot: Er nahm die SPD-Forderung nach Erhöhung der Mineralölsteuer auf. Durchsetzen konnte er sich mit dieser Forderung nicht - als möglicher Kanzler einer Großen Koalition aber hat er sich mit seinem Alleingang allemal empfohlen. Und in seiner Leipziger Parteitagsrede tauchte die Forderung nach einer Ökosteuer auf Energieverbrauch wieder auf. Auch in weiteren Punkten vertrat Schäuble Positionen, die dem marktradikalen Credo der FDP widersprechen. So forderte er eine Einschränkung der Versicherungsfreiheit bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Und, ganz im Sinne der Vermittlung von nationalem Pflichtgefühl, will er "jedem arbeitsfähigem Empfänger von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine Arbeitsgelegenheit" verschaffen, "notfalls auch in Form eines öffentlichen Beschäftigungsangebots".

Der flexible Kurs des modernen Nationalisten Schäuble schafft Raum für ungewohnte Konstellationen in der deutschen Schicksalsgemeinschaft: Arbeitsdienst mit der SPD, Ökosteuer mit den Grünen, Bundeswehreinsätze gegen "Flüchtlingsströme" mit der CSU ...

Oder wie es der Kanzleraspirant schon in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit vorausschauend formulierte: "Der gewohnte Problemlösungshorizont ist längst zu eng geworden."