Honecker nach Santa Clara!

Warum der geduldige deutsche Revolutionär im Mausoleum neben Che Guevara liegen sollte.

Nach einem Lenin zugeschriebenen Bonmot sind "Geduld und Ironie die Haupttugenden der Bolschewisten". Kritiker wiesen nicht ganz zu Unrecht darauf hin, daß Leninsches Gedankengut sowohl in Hinsicht auf seine historischen Referenzen seit den Jakobinern als auch in seiner jeweils aktuellen Ausprägung bis zu den heutigen Postkommunisten vor allem die Ausübung eines "Tugend-Terrors" inspiriert.

Was die Geduld betrifft, haben sie zweifellos Recht behalten. Die Revolution wurde selten einfach gemacht, meist wurde sie, unter Zuhilfenahme astrologisch anmutender Berechnungen ihres historisch-korrekten Zeitpunktes, erwartet - und verpaßt. Die Sozialismen wurden, wenn Leninisten gelegentlich durch Zufall, Eigenwilligkeit oder Unterstützung durch die Sowjetunion - alles wurde gleichermaßen als "historische Notwendigkeit" verbucht - doch politische Erfolge beschieden waren, mit bienenhafter Geduld aufgebaut und aufgebaut. Solange bis schließlich die Aufbauenden das eigene Tun kaum noch vom gleichzeitig stattfindenden Abbau in den kapitalistischen Ländern zu unterscheiden vermochten und folglich als demokratisch Gewendete dem "historisch notwendigen" Werk des Abbaus aller proletarischen Privilegien gegenüber dem Kapital sich mit gleicher tugendhafter Geduld anboten. Und die Ironie ?

Vielleicht läßt sie sich nur mittels jener esoterischen Zauberei entdecken, die Parteikommunisten meinten, wenn sie Unverständigen rieten: "Das mußt du mal dialektisch sehen." Immer wenn es darum ging, dem Unsinnigen Sinn zu verleihen, in der Stumpfheit den Vorschein der Erleuchtung zu erkennen, fraglose Unterordnung als Ausdruck höchsten Selbstbewußtseins zu begreifen, gelang dies mit Hilfe der Einsicht in die "Einheit der Widersprüche", der Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit, von Reform und Revolution, des dialektischen Zusammenhangs von blub und bla.

Vielleicht handelt es sich beim Verhältnis der bolschewistischen Haupttugenden um ein solches dialektisches. Vielleicht findet ja die bolschewistische Ironie in der Geduld ihren höchsten, weil dialektischen Ausdruck. Aber heißt das auch, daß die bolschewistische Geduld eigentlich eine ironische ist? Das nun langsam auslaufende "Internationale Che-Guevara-Jahr" bietet durchaus Anlaß zu dieser Überlegung.

Um naheliegenden Mißverständnissen von vornherein entgegenzutreten: Mit Ironie hat es nichts zu tun, wenn postmodern angehauchte linke Schlaumeier auf den Gedanken kommen, es könne sich um irgendwas Subversives handeln, wenn ein toter Revolutionär zur "Pop-Ikone" wird; die Swatch-Uhr mit dem Baskenmützenheiligen auf dem Ziffernblatt zeige irgendwie auch die ablaufende Zeit des Kapitals an. Oder umgekehrt, der Aufstieg des Brandstifters zum gesetzlich geschützten Trade Mark sei als verspätete Rache der Geschichte eine Rechtfertigung frühvergreister "Wirklichkeits"-Apologeten. Nichts dergleichen: Der aktuelle Guevara-Kult ist so hohl wie die groteske Che-Büste im bolivianischen La Higuera.

Der dubiose "dialektische" Zusammenhang von Geduld und Ironie zeigt sich eher dadurch, daß angesichts der späten Beisetzung des Che und seiner Compa-eros in Santa Clara die historischen Voraussetzungen seines Werks und deren weitgehend vollendete Vergänglichkeit noch einmal deutlich wurden. Che Guevara war nämlich Kommunist und insofern - entgegen den meisten sich in diesem Jahr aufdrängenden Eindrücken - ein ernstzunehmender Mensch, der wahrscheinlich unter der - posthumen - Verklärung als "Jesus Christus mit der Knarre" durch den preußischen Angeber Biermann wie unter einer üblen Kränkung gelitten hätte.

Ausgangs- und konstituierender Fixpunkt für Guevaras Aktivitäten und theoretische Überlegungen war die internationale kommunistische Bewegung. Auf dieser Grundlage festigte er seinen Ruf als revolutionärer Nonkonformist. Diese Bewegung war stets nicht nur Adressat seiner praktischen und theoretischen Manifestationen, sie war auch immer unabdingbarer Bezugspunkt für seine Vorschläge, revolutionäre Flexibilität als eine antagonistische zu praktizieren.

Das beweist beispielsweise seine für die frühen sechziger Jahre originelle Marx-Rezeption: "Marx empfahl immer, wenn der revolutionäre Prozeß in Gang gekommen sei, müsse das Proletariat pausenlos zuschlagen. Eine Revolution, die sich nicht ständig vertieft, ist eine zurückgehende Revolution." (1963) Daraus ergaben sich für Guevara gewisse unabdingbare Eigenschaften der Revolutionäre: "Revolutionäre können nicht alle abweichenden Taktiken vorausehen, die sich im Laufe ihres Emanzipationskampfes auftun mögen. Die Fähigkeit eines Revolutionärs wird daher an seinem Vermögen gemessen, für jede Veränderung der Lage die entsprechende revolutionäre taktische Antwort zu finden, sich jede denkbare Taktik zu vergegenwärtigen und sie aufs äußerste nutzbar zu machen." (1961)

Das ging gegen den kommunistischen Funktionär der Zeit der "friedlichen Koexistenz" und des halluzinierten "parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus". Und es richtete sich ausschließlich an solche Leute - andere Adressaten waren nicht denkbar. Und genau so wurde Guevaras Boschaft rezipiert. Auch von solchen Personen, Gruppen, Parteien, die den Hauptströmungen des Kommunismus kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, weil sie ihnen die offenkundige Aufgabe revolutionärer Ziele vorwarfen, wurden seine Guerilla-Aktivitäten als beispielhafte und notwendige Möglichkeiten einer Kurskorrektur der als objektiven Einheit begriffenen Bewegung interpretiert.

Dies wird deutlich, wenn man sich nach dreißig Jahren mit einem der ersten Nachrufe auf Che, verfaßt von einem radikalen Linken aus Europa, Peter Weiß, beschäftigt. "Gerade die Tatsache, daß Vietnam einsam kämpft, daß keine Freiwilligen von den Bruderländern des Sozialismus an seiner Seite stehen, daß die Arbeiter in den sogenannten entwickelten Ländern stillschweigend zusehen, wie Arbeiter und Bauern in Vietnam gemordet werden, daß Arbeiterparteien in der westlichen Welt ihnen nicht zur Hilfe kommen mit ihrer starken Waffe: dem Generalstreik, gerade das ist einer der Gründe, daß Che Guevara sich an die Guerilla Boliviens anschloß."

Der in einer Welt von Verrat und Indolenz aufrecht Weiterkämpfende hat sicher etwas von einem christlichen Märtyrer, doch ist Weiß meilenweit von der Biermannschen Verkitschung entfernt; sein Che hat eine für heutige Leser überraschende Aufgabe zu erfüllen: "Seine (Ches) These von der Notwendigkeit von 2, 3, mehreren Vietnams war nicht der Einfall eines Romantikers, das war die Einsicht eines Realpolitikers in die einzige rechte Strategie im Kampf gegen die Unterdrückung durch die amerikanischen Weltmacht."

Kommunistische Realpolitik, also die Durchsetzung einer weltweiten kommunistischen Revolution, ist nicht denkbar ohne den internationalen Hintergrund einer aus dem Klassengegensatz entstandenen Gegenmacht.

Diese Gegenmacht umfaßte als wichtigste Komponenten neben der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern vor allem die realsozialistischen Staaten. Auf deren Erstarrung sollten Aktivitäten im Guevaraschen Sinne belebend wirken: Peter Weiß hat dies in seinem Nachruf perspektivisch formuliert: "Was können wir tun? Versuchen, die auf unsere Seite zu bekommen, die an erster Stelle stehen sollten, wenn es Klassenkampf gibt: die Arbeiter? Der Krieg in Vietnam, im übrigen Asien, in Lateinamerika, Asien ist der Krieg des Klassenkampfes." Es war aus dieser Sicht völlig gleichgültig, daß die meisten der Dritten-Welt-Befreiungsbewegungen auch damals real kaum so antikapitalistisch ausgerichtet waren wie die von der kubanischen Revolution beeinflußten. Seit den Tagen der Komintern galten nationale Befreiungsbewegungen per se als "revolutionär" und versuchten diesen Eindruck um der sowjetischen Unterstützung willen durch Phraseologie und Symbolik zu verfestigen. Allein dies zeigt, daß durchaus eine objektive Interessenidentität von anti-imperialistischen Aktivitäten in der Dritten Welt und der internationalen Arbeiterbewegung bestand.

Denn das staatssozialistische Lager stand nicht nur in der Tradition dieser Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert, es war auch deren höchstentwickelte Form. Eine Bewegung, der es stets um die "gerechte" Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und nicht um die Aufhebung der Warenform ging, die Lohnarbeit nicht etwa abschaffen, sondern "befreien" und damit verewigen wollte, mußte notwendig "Arbeiterstaaten" hervorbringen und damit auch in einen militärischen, schließlich geostrategischen Gegensatz zur "freien Welt" des sich ungehindert verwertenden Kapitals eintreten.

Unter diesen historischen Voraussetzungen bündelte der Realsozialismus durchaus die Bedürfnisse der auf ihre Ausbeutung durch das Kapital Angewiesenen nach einer nicht schrankenlosen Vernutzung. Er verfestigte aber auch die Situation seiner Klientel als dem Arbeitszwang quasi natürlich Unterworfene. Mit der als selbstverständlich begriffenen "sozialen" Absicherung des Arbeitens legte der Realsozialismus schließlich die Sprengsätze an sein eigenes Gebäude. Sie explodierten, als die selbstverständlich Abgesicherten den Unterschied von freier, nur von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals definierten Arbeit und deren arbeiterbewegungsmäßig modifizierter Form nicht mehr zu unterscheiden vermochten und in notwendiger Verblendung sich fürs Original entschieden.

Durch die Erhebung des Klassenkampfes zu einer internationalen "Systemauseinandersetzung" wurden die traditionellen Klassendefinitionen in der Tat fragwürdig und folglich trat ein als "Volk" konstituiertes, aus unterschiedlichen - häufig gegensätzlichen - sozialen Gruppierungen bestehendes Lager den Zentren ökonomischer Verwertungseffektivität gegenüber. "Antiimperialistische Volkskriege", wie sie von Che Guevara und anderen initiiert wurden, sind also ohne die Weltmacht der realsozialistischen Arbeiterstaaten nicht denkbar gewesen. Darum wäre es nicht abwegig, wenn im Mausoleum von Santa Clara auch andere Tote einen würdigen Platz finden würden. Zum Beispiel Erich Honecker.

Schon in puncto Heroismus steht der Dachdecker aus dem Saarland dem argentinischen Mediziner wenig nach. Immerhin hatte er es geschafft, als deutscher Arbeiter dem Nationalsozialismus und später der demokratischen Integration zu widerstehen und an die vierzig Jahre in der vor- und nachmaligen Reichshauptstadt deutsch-imperiale Ambitionen vereiteln zu helfen. Zwar muß ihm die Guevarasche Ungeduld skandalös erschienen sein - er selbst stimmte schließlich aus Parteidisziplin für seine eigene Absetzung -, doch dürfte er kaum vergessen haben, daß der Wilde aus der Sierra Maestra auch für die antiimperialistische Sache des Realsozialismus focht. Was aber das Entscheidende ist: Honeckers hinter der geschmacklosen Fassade des elaborierten deutschen Spießertums wie ein Fels ruhrende Geduld und seine Parteidisziplin waren lange eine wesentliche Bedingung für die avantgardistische Kritik von Linken wie Guevara an eben dieser oft einer Todesstarre ähnelnden Geduld der Arbeiterbewegung. Oder mit anderen Worten: Die revolutionäre Erhebung der Dritten Welt und ihre Möglichkeit zur Belebung der Klassenkämpfe in den kapitalistischen Zentren hatte nur solange eine Chance, wie die Mauer hielt.

Die Überführung der Gebeine Honeckers von Chile nach Kuba könnte das Mausoleum von Santa Clara in eine Art bolschewistisches Tugendmuseum verwandeln. Die dialektische Einheit von Geduld und Ironie würde sich dort als Ironie der Geduld darstellen. Und diese beinhaltet nicht nur das sich selbst nicht immer bewußte gegenseitige Einverständnis von traditioneller Arbeiterbewegung und ihrer ungeduldigen Kritik, sie umfaßt auch die tragische Aufhebung der gerade durch Honecker verkörperten Geduld auf ihrer eigenen Grundlage in Form der Kapitulation des Realsozialismus. Mit Guevara und Honecker würden kritischen Santa-Clara-Besuchern - sollten sich diese jemals dort einfinden - zwei Gescheiterte als Unerlöste, ja irgendwie Untote überantwortet. Diesen Zustand aufzuheben, wäre dann Angelegenheit einer neuen kommunistischen Bewegung.