Kopfschutz nicht für alle

Alcides Sagarra ist auch im 33. Trainerjahr optimistisch: Bei der Box-WM in Budapest ist Kuba Favorit

Alcides Sagarra ist eher bekannt als der "Papst des Amateurboxens". Denn der 61jährige Coach der kubanischen Boxer wird von Fachleuten in aller Welt wegen seiner großen Erfolge mit der kubanischen Nationalmannschaft anerkannt. Befragt nach deren Zielen für die am letzten Wochenende in Budapest beginnende WM, erklärt der überzeugte Revolutionär süffisant lächelnd: "Mir persönlich gefallen die dort vergebenen zwölf Goldmedaillen sehr gut, und wir wollen in allen Gewichtsklassen den Titel gewinnen. Nach allen zwölf zu greifen, ist meiner Meinung nach viel einfacher, als sich nur auf eine zu konzentrieren, denn das kann viel schneller in die Hose gehen."

Mit diesem Credo hat der Mann, der seit 1964 an der Spitze des kubanischen Boxsports steht, alles gewonnen, was es im Amateurbereich zu gewinnen gibt, seine Schützlinge dominieren seit Jahrzehnten Weltmeisterschaften wie Olympische Spiele. 82 Goldmedaillen sprangen allein bei den Weltmeisterschaften von Junioren und Erwachsenen heraus, 23 mal holten die kubanischen Faustkämpfer olympisches Gold, und auch für die WM in Budapest hat "der Professor", wie er gerne genannt wird, das Minimalziel ausgegeben: die Nationenwertung anzuführen.

Allerdings ist das "Unternehmen Gold" nicht mehr ganz so leicht zu realisieren wie noch am Anfang des Jahrzehnts. Das gibt auch Alberto Brea, verantwortlicher Trainer für die Equipe der Stadt Havanna, ohne Zögern zu. "Die internationale Spitze ist enger zusammengerückt. Das war bei den letzten Weltmeisterschaften in Berlin und auch bei den Olympischen Spielen in Atlanta, wo wir nur je vier Goldmedaillen holten, deutlich zu spüren." Noch 1992 bei der Olympiade in Barcelona oder 1993 bei der WM im finnischen Tampere dominierten die übermächtigen kubanischen Faustkämpfer in nahezu allen 12 Gewichtsklassen ihre Gegner. Sieben beziehungsweise acht Titel gingen damals an die Kubaner, doch diese sorglosen Zeiten scheinen vorbei. Die Ursachen hierfür sind jedoch nicht allein bei der internationalen Konkurrenz zu suchen, die sich das eine oder andere von den Kubanern abgeschaut hat, sondern auch im wirtschaftlichen Niedergang, mit dem die Karibikinsel seit der Auflösung von RgW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, das Ost-Pendant zur damaligen EG) und Sowjetunion zu kämpfen hat. Es muß gespart werden - auch beim so prestigeträchtigen Sport.

Anlagen wie die Provinzakademie Mulgabo, wo sich unter anderem die Boxequipe von Havanna auf die nationalen Meisterschaften vorbereitet, wirken heruntergekommen. Die Wände der Halle, in der trainiert wird, sind schon lange nicht mehr gestrichen worden. Der Putz bröckelt und läßt den nackten Stein zum Vorschein kommen. Um Platz zu schaffen, wurde eine Mauer, die das Trainingsarreal bislang unterteilte, von den kommenden und aktuellen Weltmeistern eigenhändig eingerissen. "Um die materielle Basis unseres Sports steht es nicht zum besten, aber wir geben uns Mühe, ein gutes Training zu machen. Genau das ist unser Job - wir bauen neue Champions auf. Natürlich stimmt es, daß wir nicht für alle einen passenden Kopfschutz haben, daß es immer mal wieder an Boxhandschuhen oder Bandagen fehlt und daß viele der jungen Boxer keine Turnschuhe, keine Sportbekleidung besitzen. Aber das Wesentliche ist doch, daß sie hier etwas lernen, ihre Technik verbessern und sich mit besseren oder ähnlich guten Boxern messen können", erläutert der 42jährige Alberto Brea, selbst vierfacher kubanischer Meister, die Situation. Ganze vier Paar Boxhandschuhe stehen dem Trainerteam um Brea zur Verfügung, neben Sandsäcken baumeln alte Reifen von der Decke und die Turnschuhe der Boxer werden durch Leukoplast zusammengehalten.

Trotz der schwierigen Bedingungen macht Brea seine Arbeit gut. Zum von ihm betreuten Kader gehören Juan Carlos Quesada (24), ein ehemaliger Juniorenweltmeister, sowie der 19jährige Yurkis Sterlin, der als Vizeweltmeister im Juniorenbereich ebenfalls schon internationale Erfahrung sammeln konnte. Derzeit boxen im A-Kader der Nationalmannschaft neun Boxer aus Havanna, unter ihnen der aktuelle Olympiasieger im Fliegengewicht, Maikro Romero. Romero gehört zur Staffel, die Alcides Sagarra für Budapest nominiert hat und gilt als sicherer Kandidat für eine Medaille, ebenso wie der wohl bekannteste kubanische Boxer - der Schwergewichtler Félix Sav-n. Sav-n, gerade 30 geworden, schickt sich an, in Budapest seinen Weltmeistertitel zum sechsten Mal in Folge zu verteidigen und kaum jemand in Kuba zweifelt am Erfolg dieses Unterfangens. 100 Kämpfe hat der Doppel-Olympiasieger seit dem Juli 1989 auf internationalem Parkett absolviert und keinen einzigen verloren. Eine Niederlage kassierte der Athlet aus Guantanomo erst zu Hause: Am 31. Januar ging der Mythos Sav-n in der Stadt Holgu'n auf die Bretter. Seinen K.O. in der zweiten Runde im Kampf gegen Juan Del's kommentierte Sav-n folgendermaßen: "Ich war nach Punkten in Führung und habe mich auf meine Routine verlassen - und dann traf mich völlig unerwartet dieser punch. Das wird mir eine Lehre sein."

Für den strengen Sagarra steht sein Musterschüler trotz dieses Knockouts natürlich nicht zur Disposition: "Die Niederlage von Fel'x zeigt nur, wie schwierig es ist, durch die nationale Qualifikation zu kommen. Auch Ausnahmeboxern wie ihm, Ariel Hern‡ndez oder Hector Vinent, die über Jahre auf einem hohen Niveau boxen, kann das passieren. Fel'x hat die Revanche gegen Del's für sich entschieden und sich rehabilitiert. Er ist auf alle Fälle in Budapest dabei."

Anders erging es Héctor Vinent, dem Doppel-Olympiasieger im Halbweltergewicht von Barcelona und Atlanta: Er wird zu Hause bleiben müssen, da Roberto Guerra die interne Qualifikation für sich entscheiden konnte. Auch Ariel Hern‡ndez hatte Mühe, sich zu qualifizieren. Erst sein Sieg bei einem internationalen Turnier in Polen vor wenigen Wochen überzeugte den Gran Maestro Sagarra, der seine besten 40 Boxer stets um sich schart. Auf der streng abgeschirmten Finca Orvein Quesada bereitet er sie auf die internationalen Turniere vor und bringt sie auf die Minute in Bestform, wozu er 100prozentige Disziplin verlangt, denn "ohne Disziplin erreicht man gar nichts." In seinen Händen laufen alle Fäden zusammen, alles wird minuziös vorbereitet, jeder Interviewwunsch geht über seinen Schreibtisch, und auch über den Lebenswandel seiner Schützlinge ist Sagarra genauestens informiert. Einige Weltklasseboxer haben sich dieser Kontrolle und damit auch den Widersprüchen des kubanischen Alltags allerdings entzogen: Sie setzten sich ins Ausland ab, wie Juan Carlos G-mez, der mittlerweile beim Hamburger Promoter Klaus-Peter Kohl unter Vertrag steht oder Diosvelis Hurtado und Jorge Luis, die in den USA als Profis boxen. Für Sagarra ist das deren Problem: "Es ist ihr Risiko, wenn am Ende die Gesundheit auf der Strecke bleibt, und die ist schließlich mehr wert als alles Geld." Doch die Offerten der internationalen Boxpromoter werden auch in Budapest nicht ausbleiben, und längst nicht alle Boxer sind so immun dagegen wie Sav-n, der schon Millionenangebote kalt lächelnd ausschlug. Doch zunächst einmal geht es wieder um Medaillen, und die sollen nach Möglichkeit alle vom Team des ehrgeizigen Alcides Sagarra gewonnen werden.