Die Große Övelgönner Haßnacht

Öde Orte: Die Freie und Hansestadt Hamburg.

Die Stadtporträts erscheinen im Februar in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Band "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam Leipzig.

Ende Juni, ein warmer wolkenarmer Abend, lachsroter Himmel im Westen, bei Wedel. Ein faules Schlucken und Schlecken im Fluß, ein laues Wehen, ein Dunst aus Altöl und Treibholz, über den Büschen Trauben von Taufliegen. Herbert Nietsch hält hof auf seinem Lieblingsuferstück, und weil Matthias und ich zu spät kommen, wissen wir schon, was nun anliegt: Haßnacht. "Haßnacht!" brüllt Herbert; "Haßnacht", quaken wir schüchtern zurück. Jetzt bloß nicht widersprechen. Um seinen Hintern, sauber im Halbkreis: sechs Holstenbüchsen, eingedrückt; die siebte, noch voll, klemmt zwischen seinen Schenkeln. Er reißt die Kühltasche auf, wir fallen in den Sand und fangen die Dosen, die er uns zuschmeißt. "Wo Gert ist", donnernd.

"Gert", sagt Matthias, "ist auf dem Weg." - "Der Schmock! ... Also. Haßnacht. Und erzählt mir bloß nicht, warum ihr mich so lang habt warten lassen. Ich glaub ja doch kein Wort." Ein Sirenenton vom Containerhafen, gleich danach ein Krachen und Quietschen, wieder die Sirene. "Wir" (Herbert, diktatorisch) "werden uns also heut' abend mit der Freien und Hansestadt Hamburg beschäftigen. Wir werden alles aufzählen, was wir an ihr verabscheuen, uns vollaufen lassen und uns dabei wie die Herren der Welt vorkommen." Matthias zuckt ein wenig mit dem Mund: Aber da muß er jetzt durch - er hat die Haßnacht schließlich erfunden, damals, als Meike ihn vor die Tür setzte. Doch er zuckt gar nicht aus Verdruß -

- er platzt heraus: "Meike Olesen! Dies ganze verschißne Blankeneser Elbhangpatriziat! Diese blau-blonden Weiber, die sich immer genau zwei Jahre hinter der Mode her anziehen. Moment, by the way, get ready to kotz: Jil Sander. Joop!" Er hat sich übernommen, saugt hastig Holsten, Möwen patrouillieren vorbei, und ich übernehme: "Horst Janssen. Ein Zeichner, wie Gott ihn nur alle zehn Jahre hinkriegt, läßt sich nieder mitten zwischen diesen Blankeneser Geld- und Blödsäcken, läßt sich von ihnen einreden, er sei ein Genie - von Leuten, die sich Barlach-Specksteinmännchen in den Salon stellen -, er wird also schlechter und eitler von Jahr zu Jahr, und lang bevor er stirbt, hat diese platte Stadt wieder mal ein großes Talent ruiniert." - "Weshalb", ruft Matthias, wieder in Fahrt, "die größeren Talente zusehen, so schnell wie möglich den Krämerseelen hier zu entkommen. Brahms: flieht nach Wien! Und Arno Schmidt: versteckt sich in Bargfeld! Wer aber bleibt an Ort und Stelle? Georg Philipp Telemann."

Hamburger Flut läuft auf, schlurft wie im Schlaf über den Strandsand. Herbert, abgeklärt lächelnd, denn er hat uns vergeben, sagt nun: "Auch wir, Matthias, bleiben hier." Protest, Geschrei, denn schlaue Bemerkungen egalwelcher Art verstoßen gegen die Regeln. "Dialeckdich", sagt Herbert, lächelnd, und zieht neue Dosen heraus. Unversehens ist Gert Ockert aufgetaucht und fängt sich eine. Ein gewiefter Hund, hat wahrscheinlich hinter den Büschen gelauscht - ehe wir ihn zur Sau machen können, legt er schon los: "Haßnacht? Fein. Gegen Hamburg? Klasse. Zum Beispiel mein Sankt Pauli, Sankt Pauli bei Nacht - ein einziger verschwitzter Schwindel. Das Bier zu teuer, die Nutten zu blond, die Clubs zu billig. Und seit die Touristen wegen Cats, aber nicht mehr zum Ficken kommen, ist die Reeperbahn wirklich nur noch eine begehbare Postkarte." - "Eines dummen Mannes Wort", plärrt Herbert, "sie sollen lassen stan!" Wir tun ihm nicht den Gefallen zu murren. Barfuß stapft jetzt durch den jungen Schlick ein junges Paar, bemerkt uns Zausel, hört auf zu lächeln und sieht zu, daß es Land gewinnt. Überm Fluß, weit weg im Westen, erscheint ein Phosphorgrün. Nacht macht sich breit.

Der Lotsenturm am anderen Ufer versinkt, auf der Airbus-Werft blaken die Quecksilberlampen, wieder Gert Ockert: "Es muß sowieso mächtig was faul sein in einer Gemeinde, die sich selbst so gern auf die Schulter klopft wie diese. Die schönste, grünste, coolste will sie sein; und dann verschlägt es dich nach Wandsbek, Eppendorf, nach Hamm womöglich, und du fragst dich, warum die Stadt mit nur einer Irrenanstalt auskommt." - "Weil", sage ich, weil ich mal wieder was sagen will, "dieser gottverlaßne Flecken sogar für kollektiven Wahnsinn zu provinziell ist. Welch eine Dreistigkeit ohnehin, von den vielen Dörfern, aus denen Hamburg zusammengewürfelt wurde, als einer 'Stadt' zu sprechen! Eimsbüttel! Duvenstedt! Rissen!! Ortsnamen wie aus dem Neandertal! - Wußtet ihr, daß die Eingeborenen bis zum Einmarsch Napoleons nicht mal ein Wort hatten, um sich voneinander verabschieden zu können? Ohne 'Adieu' kein 'Tschüs'."

Einige Minuten Kollektivgestöhn übers Plattdeutsche, das seinen Namen aber so was von verdient habe (Matthias); das nicht mehr zu beherrschen der größte, der alleinige Vorzug der zeitgenössischen Hamburger sei (Gert); das Gott, genau wie diese unsägliche, klägliche Stadt, in seinem Zorn erschaffen haben dürfte (ich). Dunkel tuckernd jetzt ein Kümo, sein Kielwasser schimmert im Mondschein. Herbert entzündet die Petroleumfunzel, wir husten ein bißchen, er verkündet: "Nun, meine Herren, in knappen Worten - eine Haßanekdote aus meinem Stadtteil."

Sternkerzen blinken; der Wind brist auf und mauschelt mit den Bäumen am Hang. "Also. Nienstedten ist der reichste Bezirk dieser reichsten Stadt im reichsten Land Europas. Ihr wißt es." (Devotes Nicken.) "Jahrzehnte-, jahrhundertelang gab es mitten in dem Viertel eine Brachwiese, zwei Hektar wilde Weide. Da führten also die breitärschigen Millionärsbälger, die Meikes" (Kinnspitze zu Matthias) "und Haukes ihre Reitstallzossen aus. Bis dann Anfang der Neunziger der Realsozialismus, ganz nach Wunsch der Alten, sich verabschiedete und aberhunderttausend Rußlanddeutsche in den Westen entließ. Der Senat beschloß, auf dem Anger ein Aussiedlercamp zu errichten, und in den Eigenheimen rundrum hub das Zittern an. Man plante eine Bürgerwehr, sorgte dafür, daß die komplette CDU-Führung, die den Einbruch der Hungerleider ja nicht verhindert hatte, abgesägt wurde, und man forcierte die Verschiffung des Ersparten gen Liechtenstein." Kunstpause. Tuscheln und Huschen auf der Elbpromenade.

Ich frage nach der Pointe. "Letztes Jahr" (in Herberts Brille flackert Petroleumlicht) "wurde unterm Gesträuch gleich neben dem Camp, in Müllbeutel verpackt, ein verwester Ermordeter entdeckt. Finder waren Kinder der Migranten, nebenbei. Die Kripo behauptete, es sei nicht mehr festzustellen, um wen es sich da handele. Dann die offizielle Vermutung, das Opfer sei ganz woanders, nämlich in Wandsbek oder Volksdorf abgeschlachtet worden. Zwanzig Kilometer entfernt! Und damit ist die Sache erledigt. Stellt euch vor: ein Mordopfer, im Plastiksack entsorgt, mitten im reichsten Stadtteil der reichsten Ö also. Ihr wißt Bescheid." (Nicken.) "Und die Pointe" (Kinn zu mir) " - du siehst die Aussiedler nur noch truppweis' ihr Lager verlassen; und so wenig Einbrüche wie in den letzten zwei Jahren hat der Bezirk nie gehabt." Er trinkt, rülpst, sieht nach Süden.

Volles Mondlicht auf dem Wasser. In den Uferwellen eine Entenflottille: Admiral Erpel paddelt drei Längen vorweg, Frau Kapitän und vier Leichtmatrosen in Linie hintan. Matthias Neumann beginnt zu pfeifen: "Rollin' home"; Gert summt: "To min ol' Hamborg"; etwas später klopfen wir uns den Sand aus den Hosen und rollen zum Anker, wo die Haßnacht enden wird, wie immer.

Kay Sokolowsky ist freier Autor und lebt in Hamburg.

In der nächsten Ausgabe schreibt Rayk Wieland über Berlin-Köpenick: "Vorstadt mit Vorsatz".