Jospin tritt aufs Gaspedal

Nach fünf Tagen Arbeitskampf schließt die sozialistische Gewerkschaft CFDT ein Abkommen mit den Unternehmern. Die anderen Gewerkschaften sind sauer, der kommunistische Transportminister applaudiert Nach fünf Tagen war alles vorbei, und die französischen Linkskoalition hatte ihre "Bewährungsprobe" bestanden.

Kern des Streits zwischen abhängig Beschäftigten und Unternehmern der Transportbranche war die Bezahlung der Arbeitsstunden. Der Lkw-Transport stellt einen extremen Niedriglohnsektor dar: Für 39 Wochenstunden, was der normalen gesetzlichen Arbeitszeit Lohnabhängiger entspräche, verdient ein Fahrer zu Beginn seiner Tätigkeit netto 4 997 Franc (1 482 Mark) monatlich. Nach 15 Jahren Beschäftigungsdauer sind es 5 327 Franc (1 580 Mark) netto. Die Arbeitszeiten hingegen sind extrem lang; statt der normalen gesetzlichen Arbeitsdauer von 169 Stunden im Monat - was der 39-Stunden-Woche entspricht - arbeiten die Fahrer mitunter bis zu 230, ja 240 Stunden monatlich.

Die Gewerkschaften forderten eine Erhöhung der Löhne auf 10 000 Franc (knapp 3 000 Mark) pro 200 Arbeitsstunden. Dieselbe Forderung war bereits beim Fahrerstreik im November 1996 erhoben worden. Damals wurde errechnet, daß eine entsprechende Bezahlung einer Lohnerhöhung um durchschnittlich 23 Prozent für die Beschäftigten entspräche. In der Folge der 1996er Streikbewegung hatten die Unternehmer der Branche, neben fünf vertraglich vereinbarten Zugeständnissen (u.a. Rente ab 55, Anerkennung des Rechts auf Gewerkschaftsbildung, die Senkung der Zahl unbezahlter Krankheitstage von zehn auf fünf) auch eine Erhöhung der Löhne zugesagt. Doch dieses Versprechen, das am Ausgang des Arbeitskampfs nicht vertraglich fixiert worden war, war nie eingehalten worden. Die normale Lohnentwicklung in der Branche verlief gegenüber der allgemeinen (inflationsbedingten) Lohnkurve im Lande langsamer: So stiegen die Branchenlöhne zwischen Ende 1995 und Ende 1996 um 1,9 Prozent, der allgemeine Lohnanstieg im Lande betrug jedoch 2,2 Prozent.

Die Transportunternehmer waren jedoch nicht bereit, den Lohn nach geleisteten Arbeitsstunden zu bezahlen, sondern strebten eine auf den Zeitraum eines Jahres berechnete Entlohnung an. Diese Logik der jährlichen Berechnung von Arbeitszeit (annualisation) ist bei den Unternehmern in Mode gekommen und erlaubt die fast totale "Flexibilität" der Arbeitskräfte: Je nach Auftragslage des Betriebes arbeiten die Beschäftigten während der einen Woche weit über die wöchentliche Durchschnitts-Arbeitszeit hinaus, während anderer Wochen - bei geringer Auslastung des Betriebs - hingegen wird die durchschnittliche Arbeitszeit unterschritten.

Der Anteil der auf diese Weise bezahlten Beschäftigten (aller Branchen) stieg in Frankreich von 13,3 Prozent (1993) auf 16,6 Prozent (1996). Es ist zu befürchten, daß die durch die Ergebnisse des "Sozialgipfels" vom 10. Oktober auf Betriebs- und Branchenebene verlagerte Verhandlung über die Modalitäten der Einführung der 35-Stunden-Woche eine deutliche Ausweitung der annualisation bringen wird. Im Regierungsentwurf als Ergebnis des "Sozialgipfels" heißt es, die Beschäftigten müßten für die Reduzierung der Arbeitszeit auf 35 Stunden Zugeständnisse bei der Lohnpolitik und bei der "Organisation der Arbeitszeit" machen.

Am Wochenende des 1./2. November platzten die Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und dem größten Unternehmerverband der Transportbranche, der UFT, der seit Tagen eine "Politik des leeren Stuhls" praktizierte. Einige Stimmen, etwa die Gewerkschaft FO, vermuteten hinter der harten und verhandlungsunwilligen Haltung der UFT eine Strategie des nationalen branchenübergreifenden Unternehmerverbands CNPF, in dem die UFT Mitglied ist. Trotz der abzusehenden Vorteile, welche die Unternehmer bei künftigen Verhandlungen um die Einführung der 35-Stunden-Woche herauszuschlagen versuchen werden ("Mäßigung" der Lohnentwicklung auf Jahre hinaus, Flexibilisierung der Arbeitszeiten), haben Teile des CNPF "aus Prinzip" einen harten Oppositionskurs gegen die Verpflichtung zur 35-Stunden-Woche eingeschlagen, weil man sich von der Politik grundsätzlich nichts vorschreiben lassen will.

Die harte Konfliktlinie der UFT erklärte sich also vermutlich aus einem Obstruktionskurs heraus. Eine minoritäre Unternehmervereinigung, die UNOSTRA, schloß hingegen am Wochenende des 1./2. November einen Vertrag mit den Gewerkschaften (ohne die KP-nahe CGT), der die Bezahlung von 10 000 Francs für 200 Arbeitsstunden enthielt. Dies widerlegte auf einfache Weise das in den Streiktagen häufig wiederkehrende Gejammer, wonach die kleineren Transportbetriebe eine solche Lohnerhöhung nicht verkraften könnten: Die UNOSTRA vertritt ausschließlich kleine und mittelständische Unternehmen, während die Großen der Branche in der UFT zu finden sind. Das Abkommen mit der UNOSTRA wies freilich gravierende Schwachpunkte auf. So schweigt dieses, wo es von Lohnerhöhungen auf 10 000 Francs für 200 Stunden spricht, sich völlig über die Prämien aus, die in der Praxis einen bedeutenden Teil des Lohns der Fahrer ausmachen - was den Unternehmern ermöglichen würde, einen Teil der Erhöhungen durch Einberechnung der Prämien in den Lohn zurückzunehmen, wie Le Monde am Wochenende anmerkte.

Die Konfliktlinien ließen sich jedoch nicht lange aufrechterhalten, und die Pressionen von mehreren Seiten waren extrem stark, dem Arbeitskampf ein rasches Ende zu bereiten. Drei Faktoren trugen maßgeblich zu einem schnellen Ende bei: Zum einen entfalteten die Fahrerstreiks und Straßenblockaden (sogenannte "Filterblockaden": Privatfahrzeuge durften durch, Lkw nicht) sehr viel rascher ihre Wirkung als noch vor einem Jahr. Zeichnete sich 1996 nach etwa einer Woche ein allgemeiner Benzinmangel im Lande ab, so war diese Situation 1997 bereits in den ersten zwei Tagen des Arbeitskampfes erreicht.

Zudem war der politische Druck zur raschen Beendigung der Streiks auf die Konfliktparteien in diesem Jahr von Anfang an sehr viel höher. Das gilt nicht nur für die europäischen Institutionen und die Nachbarländer Frankreichs, sondern auch für die Regierung Jospin selbst. Das konservative Vorgängerkabinett Juppé hatte im Vorjahr die Ausweitung des Streiks und der Straßenblockaden relativ passiv und hilflos hingenommen, was wohl daran lag, daß er keine andere Wahl hatte. Einer Vielzahl sozialer und politischer Protestbewegungen in unterschiedlichen Bereichen ausgesetzt, war die Juppé-Regierung zu jener Zeit bereits hoffnungslos in der Defensive.

Die rosa-rot-grüne Koalition unter Lionel Jospin verhielt sich von Anfang an energischer gegenüber den Streikenden. So erklärte die Regierung, sie werde zwar Straßenblockaden tolerieren, aber 18 "neuralgische Punkte" (es blieb geheim, welche) durch Polizeikräfte freihalten. Vermutlich waren damit Raffinerien und ähnliche Zentren der Produktion anvisiert. Bereits in den ersten Tagen räumte Polizei die blockierten Übergänge an der deutschen Grenze, an der Strasbourger Europabrücke sowie der spanischen Grenze. (Aus der Opposition heraus drängte wiederum der ultraliberale Ex-Wirtschaftsminister Alain Madelin auf ein hartes staatliches Vorgehen, da es sich "nicht mehr (um) einen Streik, sondern einen Aufstand" handele.) Zugleich versuchte das Kabinett auf beide Seiten massiv Druck auszuüben: Man preßte die UFT, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, aber KP-Transportminister Jean-Claude Gayssot suchte - so der Chef der FO-Fernfahrer Roger Poletti - auch auf die Gewerkschaften Druck auszuüben, damit sie das von der UNOSTRA mitunterschriebene Abkommen akzeptierten.

Gegen Mitte der ersten Novemberwoche schien sich zunächst eine Verhärtung des Konflikts abzuzeichnen. Im südfranzösischen Vitrolles kam es am 5. November zum Einsatz von Schlägern auf einer Straßensperre der streikenden Fahrer, bei denen drei Fernfahrer schwer verletzt wurden. Was in manchen deutschen Medien als Prügelei mit aufgebrachten streikunwilligen Fahrern dargestellt wurde, waren Auseinandersetzungen mit von den Unternehmern aufgestellten Streikbrecherkommandos. Am Vormittag des 6. November erschienen die Urheber der Schläge zur ersten Anhörung vor Gericht; es handelte sich um Mitarbeiter einer privaten Security-Firma sowie um den Chef einer lokalen mittelständischen Transportspedition.

Dennoch war der Streik bereits am Freitag beendet. Die (sozialdemokratisch orientierte) Gewerkschaft CFDT sowie die kleine CFE-CGC, die Vertretung der höheren Angestellten, hatten ihre Unterschrift unter ein Abkommen gesetzt, das nunmehr auch von der UFT mitgetragen wurde und bis auf minimale Abweichungen identisch ist mit dem Abkommen, das eine Woche zuvor mit der UNOSTRA geschlossen worden war. Offen bleiben die Fragen, ob die Prämien in den Lohn einbezogen würden, was die Lohnerhöhungen konterkarierte.

Die beiden anderen großen Gewerkschaftsverbände CGT (KP-nah) und FO ("unpolitisch"-reformistisch) lehnten das Abkommen scharf ab, waren sich aber bewußt, daß sie gegen die CFDT - die von Anfang an eine große Rolle bei den Straßenblockaden gespielt hatte - die Blockade des Güterverkehrs nicht länger durchsetzen konnten. Die CFDT hatte seit Ende der achtziger Jahre gezielt im Transportsektor Mitglieder rekrutiert und im Laufe der Jahre eine dominierende Stellung erlangt. Ihre Position wurde durch die Anerkennung des gewerkschaftlichen Organisationsrechts nach dem Streik vor einem Jahr noch gestärkt. Die linksliberale Libération kommentierte am 8./9. November: "Die gewerkschaftliche Organisation hat die Berufsgruppe befriedet."

Transportminister Jean-Claude Gayssot von der KP begrüßte das Abkommen lautstark und machte den Tarifvertrag durch seine Unterschrift alsbald rechtsverbindlich. Libération sprach von der "Wendung des Ministers zum Pragmatismus" und fügte hinzu: "Gestern mußte man sich kneifen, um es zu glauben: Ein KP-Minister, CGT-Mitglied, plädiert vor der Öffentlichkeit des Landes für das Abkommen zwischen CFDT und UFT!"