Hab mich gerne, Postmoderne.

Kritische Theorie und Poststrukturalismus

Ist der Poststrukturalismus eine antidialektische Weiterentwicklung der Kritischen Theorie auf der Höhe der Zeit?

Im Laufe der sechziger Jahre bekam der Marxismus Konkurrenz durch eine neue Form der Gesellschaftsanalyse, die Macht nicht allein auf Staat und Kapital zurückführte, sondern die Orte beschrieb, an denen politische Technologien und Kontrollmechanismen in das Alltagsleben eingreifen. Die Neue Linke lehnte diesen "Poststrukturalismus" nicht zuletzt deshalb ab, weil er im universitären Richtungsstreit aus der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Marxismus siegreich hervorgegangen war.

Allein im Kulturbereich wird der Poststrukturalismus als originelle Kulturkritik verstanden. Doch dieses Wohlwollen reduziert den poststrukturalistischen Ansatz, der, genau wie die Kritische Theorie, den Anspruch einer Gesellschaftstheorie erhebt, auf einen für eine gesellschaftliche Umwälzung relativ irrelevanten Teilbereich. Der Kritischen Theorie ergeht es nicht viel besser. Zitate von Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin zieren so manchen Ausstellungskatalog; auch in kulturwissenschaftlichen Seminaren werden sie gerne herangezogen; Gilles Deleuze und Adorno sind im ambitionierten documenta-Katalog "Politics" vertreten. Beide Theorieansätze werden dabei unterschätzt.

Die Kritische Theorie und der Poststrukturalismus haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Die Kritik am traditionellen Marxismus. Beide lehnen sie den Staatsbegriff der kommunistischen Bewegung ab, der beinhaltet, den Staat zu benutzen, statt ihn abzuschaffen. Beide thematisieren sie die Fiktion des bürgerlichen Subjektes im Spätkapitalismus, gemeinsam ist ihnen die Ablehnung des Interessenbegriffes, der von objektiven Interessen ausgeht, die dem politischen Kampf nutzbar gemacht werden könnten. Beide betrachten die Psychoanalyse als wesentlichen Teil der Gesellschaftstheorie. Dabei stellt der Poststrukturalismus ebensowenig ein homogenes Denkgebäude dar wie die Kritische Theorie. Die Differenzen zwischen den einzelnen Autoren dürften noch ausgeprägter sein als diejenigen zwischen den Hauptvertretern der Frankfurter Schule.

Beide theoretische Ansätze beschäftigen sich mit der Philosophie der Vor- und Zwischenkriegszeit, d.h. mit Heidegger, Husserl und Nietzsche. Daraus folgt ein neues Verständnis von Theorie als einer eigenen Praxis, das die Ablehnung jeglichen Gebrauchswertverhältnisses von Theorie mit einschließt.

Die realhistorischen Situationen, in denen die beiden Theorien entstanden sind, unterscheiden sich allerdings beträchtlich. In Deutschland war die Arbeiterbewegung zusammen mit der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus zerschlagen worden, in Frankreich war die starke kommunistische Partei längst ein deutliches Hemmnis für die sozialen und emanzipativen Bewegungen geworden.

Die Schriften der Frankfurter Schule sind in der unmittelbaren Vorkriegszeit, während des Nationalsozialismus und im Postfaschismus entstanden. Der Poststrukuralismus versteht sich als Theoretisierung der Mai-Revolte von 1968. Der "Anti-Ödipus" ("Schizophrenie und Kapitalismus I") von Deleuze und Guattari war das erste philosophische Werk, das die Ereignisse des Mai 1968 für seine Theorie produktiv machte. Die entscheidenden Differenzen erklären sich auch aus dem historischen Hintergrund, vor dem diese Gedanken formuliert wurden. Der Poststrukturalismus lehnt den zentralen Begriff der Kritischen Theorie, "die gesellschaftliche Totalität", strikt ab. Eine Philosophie, die an der Totalität festhalte, sei selbst Teil der gesellschaftlichen Repression. Deshalb müsse die Theorie jegliche Totalität ablehnen, so die These von Deleuze und Guattari. Marx und Freud genügen ihnen nicht mehr, um die gegenwärtige Gesellschaft, für sie die "rätselhafteste Sache der Welt", zu erkennen und zu verändern. Der Poststrukturalismus lehnt jede Negation ab, er versteht sich als Philosophie der Aktion, ohne die Mittel der Dialektik und der Negation. Er bedient sich differenztheoretischer Modelle und wendet sich entschieden gegen Identitätstheorien.

Der Dialektik wird die Archäologie entgegengesetzt, die verborgene Strukturen unter der Oberfläche aufspüren will. Dieser Vorgehensweise "des Vergessens und der Substraktion" liegt möglicherweise ein viel traditionellerer Aufklärungsbegriff zugrunde als derjenige, mit dem die Kritische Theorie operiert. Materialistische Ideologiekritik nimmt Theorie bzw. Ideologie als Ausdruck einer sich verändernden Gesellschaft ernst. Dies bedeutet, daß sie ihre eigenen Grundlagen ebenfalls der Kritik unterziehen muß.

Ist der Poststrukturalismus vielleicht nur die Ideologie einer sich postmodern wähnenden Gesellschaft? Oder könnten durch die Beschäftigung mit der poststrukturalistischen Philosophie affirmative Tendenzen der Kritischen Theorie herausgearbeitet werden, so z.B. der Bezug zur Freudschen Psychoanalye, die die Vertreter des Poststrukturalismus als die Metaphysik der Psyche betrachten. Für Deleuze und Guattari bindet die traditionelle Psychoanalyse den Wahnsinn in den elterlichen Konflikt, statt seine Ursachen in der Gesellschaft zu suchen. "Die Psychoanalyse ist Teil jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression, das alles unter dem Joch von Papa-Mama beläßt", schreiben die Autoren im "Anti-Ödipus". Ähnlich verlaufen die Konfliktlinien im Diskurs um das Geschlechterverhältnis. Die Arbeiten von Deleuze, Guattari und Foucault befassen sich

mit dem Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft, das bei der Kritischen Theorie nur ungenügend berücksichtigt wird. So liefert die Beschäftigung mit dem Poststrukturalismus eine Reihe von thematischen Ergänzungen, die weder vom Marxismus noch von der Frankfurter Schule erschöpfend behandelt wurden.

Die deutsche Rezeption des Poststrukturalismus wird von spezifisch deutschen Ideologisierungen belastet. Während die radikalsten Kräfte des französischen Mai längst über Deleuze und Foucault diskutierten und sich in ihren Aktionen von diesen Ideen beeinflussen ließen, wurde der Poststrukturalismus in Deutschland erst nach der leninistischen Regression der 68er bzw. als Reaktion darauf wahrgenommen. Die Verabschiedung des antiquierten Klassenbegriffes ging einher mit der Aufgabe einer gesellschaftlichen Vorstellung von Totalität, die intellektuell immer schwieriger wahrnehmbar wird. Dem Abschied von der leninistischen Borniertheit folgte ein allgemeiner Rückzug aus dem Gesellschaftlichen, und ließ einige wenige Zuflucht in der Kulturkritik suchen.

Kritische Theorie und Poststrukturalismus antworten auf eine unerträgliche gesellschaftliche Situation, und beide kritisieren diesen Zustand: Es gibt weder einen eindeutigen Weg des richtigen Denkens, noch eine alleingültige Methode der Erkenntnis. Kritische Theorie ist kein feststehender Kanon, und ernsthafte Ideologiekritik kann aus jeder Theorie lernen, den gesellschaftlichen Zuständen auf den Grund zu gehen. Zu klären ist deshalb, ob der Poststrukturalismus nur Gesellschaftstheorie ohne Gesellschaftskritik ist, oder ob er die Kritische Theorie weiterentwickelt und ergänzt.