Visionen, die sich nicht lohnen

Vom IG Metall-Chef Zwickel war viel über Visionen zu hören: Die französischen Lkw-Fahrer kamen dabei nicht vor

Wenn der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel eine Grundsatzrede ankündigt, muß sich die Mitgliedschaft bekanntlich warm anziehen. Zumal wenn sich "Visionen lohnen" - so das Motto der Veranstaltung - sollen. Ob der große Vorsitzende wohl auch etwas zum Streik der französischen Lastwagenfahrer sagt? Ein politisch-wissenschaftlicher Kongreß letzte Woche in Hannover zu Ehren des langjährigen IGM-Vorsitzenden Otto Brenner (1952 bis 1972) sollte einer "Sozialökonomischen Reformstrategie angesichts der Globalisierung" den Weg weisen. Und Zwickel war angetreten, um "die Rolle der IG Metall als politischer und sozialer Faktor an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend" zu definieren.

Fulminant der Anfang der Rede des großen Vorsitzenden: "Zwei Phänomene prägen die Gesellschaft" - das klang gut. Gleich im nächsten Satz der Beweis, daß Zwickels Redenschreiber schon mal ins Kommunistische Manifest geschaut haben: "Der Triumph des Kapitalismus und die Tragödie der Arbeitslosigkeit. Beides sind keine Gespenster. Und sie gehen nicht nur in Europa um." Wow! Weil das mit den Gespenstern so ist, müssen sich die Gewerkschaften einer doppelten Aufgabe stellen, so Zwickel weiter. Man wolle eine neue Debatte über die Zukunft anzetteln und brauche ein neues gesellschaftliches Bündnis im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

Obwohl es keine globale Produktionskrise gibt, weil die Wirtschaft expandiert und man in der Bundesrepublik auch keine Wettbewerbskrise habe, da der Exportsektor floriere, gebe es trotzdem "in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt" eine Beschäftigungskrise, die sich zuspitzt. In den alten und den neuen Wirtschaftszentren werde ungerecht verteilt, während Börsenkurse und Unternehmergewinne explodieren. "Dadurch wird der soziale Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft ausgehöhlt, die Demokratie letztlich gefährdet", sagt der oberste Metallgewerkschafter. Prima Erkenntnisse, oder?

Weil es eine Gedenkveranstaltung für Otto Brenner war, mußte dieser natürlich zitiert werden. Sein Vermächtnis sei modern im besten Sinne des Wortes, so Zwickel, und dann - Zitat Otto Brenner: "Wenn auch der Begriff des Klassenkampfes manchem antiquiert erscheint, so bleibt gleichwohl eines unbestreitbar: Immer noch gibt es in dieser unserer Gesellschaft Ungerechtigkeit und Ausbeutung, einseitige Verteilung von Macht und Besitz, ungleiche Lebenschancen und zahllose andere Widersprüche, gegen die man angehen muß." - Zitat Ende. Otto Brenner sagte dies auf dem IGM-Gewerkschaftstag 1971 in Wiesbaden, haben Zwickels Redenschreiber rausgefunden. Ein weiteres Zitat von Brenner aus dem Jahr 1972, dann wieder Zwickel mit eigenen Worten: "Diese Sätze sind 25 Jahre alt. Sie verbinden Gegenwartsaufgaben und Zukunftsalternativen. Sie sind nicht von gestern, sie gelten auch für morgen." Werden wir jetzt endlich zum Klassenkampf, zum Generalstreik aufgerufen? Halt, stop, die Analyse ist noch nicht zu Ende. Und immer noch nichts zum Streik der Lkw-Fahrer - oder hat ihm womöglich keiner Bescheid gesagt?

Zwickel hat zwei Arten von Neokonservativen ausgemacht: Der eine Teil, zu dem er BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel zählt, erteilt der "Konsensgesellschaft" eine Absage, will die "Konfliktgesellschaft" - "Kapitalismus pur und Klassenkampf von oben" sei das - und hat null Interesse, die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Dagegen werde man sich mit allen Mitteln wehren.

Der andere Teil der Neokonservativen - wer das ist, bleibt geheim - hat "nicht das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu steigern und den Lebensstandard zu senken, die Umwelt zu verwüsten und die Dritte Welt verelenden zu lassen", läßt Zwickel wissen und konfrontiert uns mit der Feststellung: "Es sind nicht die Ziele, es sind die Mittel, die uns von diesen Neokonservativen trennen." Bingo, der Kandidat hat 100 Minuspunkte! "Denn", so fährt er fort, "sie wollen mit entfesselter Konkurrenz zwischen allen Ländern Absatz und Arbeit in jedem Land verbessern."

Und dagegen hilft nur internationale Solidarität, und zuerst mit den französischen Streikenden? Pustekuchen! Zuerst muß analysiert werden, was die Gewerkschaften von diesen Neokonservativen trennt. Genau! Ihr Konzept kann nicht funktionieren! Denn: "So gesehen ist der Neokonservatismus theorielos - gerade im Zeichen der Globalisierung." Mhm ... zwei Teile Neokonservatismus - gegen den einen verbünden und dem andern theorielos begegnen, oder was? Zwickel weiter: "Zur Bilanz des Neokonservatismus gehören auch gesellschaftliche Deformation: Sucht, Aggression, Kriminalität, Ausländerfeindlichkeit." Nur: zu welchem Teil des Neokonservatismus? Fragen über Fragen! Auch Zwickel fragt: "Wer will eigentlich ein solches Leben für sich und seine Kinder?"

Eine angemessene Antwort auf das Elend der Welt ist nicht die Absage an jede Politik, sondern das Engagement für eine andere Politik, findet Zwickel. Er möchte aber "kein geschlossenes Gesellschaftsmodell am Reißbrett" entwerfen, weil uns "Heilslehren nicht weiter bringen". Es geht ihm nicht um Illusionen, sondern um Visionen, macht Zwickel deutlich, um dann einen kleinen Abstecher in die Philosophie zu wagen. Beim Streit, ob die Globalisierung Realität oder Mythos sei, seien im Zweifelsfall beide Positionen unzutreffend: "Die Globalisierung ist gleichermaßen Realität und Mythos." Teil der gewerkschaftlichen Vision einer besseren und gerechteren Welt sei, daß die Gewerkschaften nicht Objekt der Globalisierung bleiben müssen, sondern Akteur der Internationalisierung werden müssen.

Na also, warum nicht gleich so, hoch die internationale Solidarität mit den streikenden Kollegen aus Frankreich? Langsam, langsam. Neue Spielregeln zur Gestaltung der Politik müssen vereinbart werden, fordert Zwickel, hierbei muß in erster Linie die Verfügungs- und Verteilungsfrage gestellt werden: "Es geht um demokratische Verfügungsmacht im ökonomischen Kernbereich." Wie immer das aussehen mag.

Gerechte Verteilung des Reichtums sei kein Thema der Vergangenheit, sondern ein Projekt für die Zukunft. Schließlich müsse man irgendwann zu einer Symbiose von Arbeit, Solidarität und Gerechtigkeit kommen - dafür gebe es derzeit allerdings keine Vorbilder. In Amerika fehle es an Gerechtigkeit, in Asien an Demokratie. Der Dreiklang von Arbeit, Solidarität und Demokratie sei aber die Vision für ein zukunftsfähiges Europa. Aha, Europa, jetzt müßten aber die Lkw-Fahrer kommen ...

Tun sie aber nicht. Die Lkws stehen, und Zwickel fährt fort und kommt zum Schluß seiner Rede: All dieses und noch viel mehr könne mithelfen, Alternativen im Kapitalismus durchsetzungsfähig und Alternativen zum Kapitalismus diskussionsfähig zu machen. Also: Alternative ohne Sozialismus? Irgendwie fehlte dieses Wort. Genauso wie die Solidarität mit den französischen Fernfahrern.