Spinnen im Netz

Hartmut Winklers Medientheorie des Computers

Ja, das waren noch Zeiten, als man den Sportunterricht schwänzte, um im Computerraum des Gymnasiums die alten Commodore-Maschinen anzuwerfen und diese mit handgeschriebenen BASIC-Algorithmen zu füttern. Ohne daß er irgendwas von Medientheorie gewußt hätte, leuchtete seinerzeit sogar einem Schüler der 8. Klasse das Problem der Schnittstelle zwischen analogen und digitalen Medien unmittelbar ein. Der analoge Festspeicher, also eine gewöhnliche Audiokassette, setzte der digitalen Datenwelt deutlich Schranken, die wiederum auf, wie der inzwischen zum Soziologen gewordene Schüler zu wissen meint, sog. gesellschaftliche Bedingungen verweisen. Ein Programm, das zum Speichern 45 Minuten verschlang, benötigte natürlich dieselbe Zeit, um in den Arbeitsspeicher geladen zu werden, so daß eine maximale Spanne von 20 Minuten (die Dauer der großen Pause) zur Verfügung stand, um das Programm zu verbessern oder das Programm auszuprobieren. Der Rest der 2 x 45 Minuten Sportunterricht wurde vom Tonband verschlungen.

Die Installation eines Floppys hätte jenem Schüler damals den zweckentwendeten Unterricht als Paradies auf Erden erscheinen lassen können, hätte aller Unterricht der Leibesertüchtigung gedient. So wenig wie heute, war dies auch damals der Fall. Und so kommt es vielleicht, daß, wer sich nicht nur an DOS, sondern sogar noch an das Davor erinnert, auch heute noch eine gewisse Skepsis gegenüber jenen Medien- und Computerpropheten behält, die derzeit unter dem Label einer mehr oder weniger "postmodernen" Theoriebildung vom neuen Utopia künden, d.h. vom "Netz" bzw. vom "Computer als Medium".

Diese Skepsis hat nun einen theoretischen, dem Stand der Zeit entsprechenden Ausdruck in Hartmut Winklers neuem Buch "Docuverse" gefunden. Der Autor dieses Buches, der selbst einmal als Programmierer tätig war, versucht eine Sprachtheorie des Mediums Computer zu entwerfen. Diesem Versuch liegt die Ansicht zugrunde, daß Computer und "Netz" keineswegs das Ende, sondern eher die Vollendung der Gutenberg-Galaxis darstellen. Während an den frühen Maschinen die Herrschaft der Algorithmen und der semantischen Opposition (0/1) noch augenscheinlich war, so erscheint die schöne, neue, aus Icons zusammengebastelte Windows '95-Welt Taktilität und Bildhaftigkeit zu versprechen. An dieser Interpretation meldet Winkler Zweifel an, denn schließlich verarbeiten die Prozessoren nach wie vor Algorithmen, schließlich operieren sie nach wie vor mit Differenzen, und sie erkennen nicht, ob sie ein Bild generieren. Täuschen sich also die Medientheorien, die sich vom Computermedium eine Einbeziehung von Kontexten und eine Verwirklichung von bislang utopischer Totalität auf der Ebene der Repräsentation versprechen?

Dieser Frage versucht Winkler auf

die Spur zu kommen, indem er seine Sprachtheorie entwickelt und dann versucht, dem Computer darin einen Ort zuzuweisen. In seiner ausgesprochen hartnäckigen und theoretisch erfrischenden Auseinandersetzung mit strukturalistischen Theorien befragt Winkler u.a. Jacques Lacan, Jacques Derrida, Friedrich Kittler und Christoph Tholen, um ihr Sprachmodell zu prüfen. Und während diese Autoren von einem Modell ausgehen, das dem Signifikanten, der Heteronomie des Zeichens, der Verschiebung (Metonymie) und der Netzmetapher den Vorrang zuweist, setzt Winkler auf ein hermeneutisches Modell, das das Signifikat, die Verdichtung (Metapher), die Identität des Zeichens und den diskursiven Kontext stark macht.

Nach Winkler haben die von ihm in den Blick genommenen strukturalistischen Modelle Schwierigkeiten mit der Theorie des Gedächtnisses. Damit sieht er, daß in einem Modell der Verschiebung jeder Versuch, Verfestigungen und Archive zu denken, Probleme aufwirft. Aber macht nicht genau diese Problematik den Charme des Strukturalismus aus? Dagegen formuliert Winkler: "Die Sprache ist nichts, als was im Vollzug der Diskurse sich aufstaut, und ausschließlich im Umschlag von Diskurs in System erhält sie ihre Form. Sie ist vom Sprechen vollständig abhängig, aber - und dies wäre der Einwand gegen die Positionen Derridas und Lacans - sie fällt mit der aktuellen Kette, dem Diskurs und den Äußerungen eben nicht zusammen. Verschränkt mit dem Gedächtnis bildet sie das Gegenüber des Sprechens, einen Ort der Beharrung, eine Gegeninstanz. Die Sprache ist das strukturelle Gedächtnis des Sprechens, und sie kann nur funktionieren, weil sie der verteilten menschlichen Gedächtnisse (Ö) sich bedient."

Zentral am Gedächtnis ist für Winkler, was er "Vergessen hinein in die Struktur" nennt. Die fortlaufende diskursive Rede erzeugt Verdichtungen und Metaphern, die in struktureller Latenz bewahrt werden. "Das 'Gedächtnis' (Ö) ist der Ort, wo die aktuellen Wahrnehmungen in Struktur umschlagen. Nicht Auswahl (Selektion), sondern Verdichtung scheint den Prozeß zu bestimmen, die Verdichtung selbst nicht ein irreduzibel qualitativer Vorgang zu sein; und Vergessen schließlich nicht ein Verlieren, sondern ein Unkenntlichwerden in der Kompression."

Gegen Lacan und Derrida also beharrt Winkler auf der Bedeutung des menschlichen Gedächtnisses für Sprache. Denn nur hier kann der als Verdichtung beschriebene Prozeß stattfinden, der die Sprache aus der Rede erzeugt. Computer dagegen sind nicht zu einem "Vergessen in die Struktur" fähig. Und allein diese Feststellung impliziert bereits eine Kritik der Wünsche, die die Rechner auf sich ziehen, denn das "Netz" erscheint nun plötzlich vermittlungstechnisch schwächer als das alte Medium Sprache.

Ausdrücklich möchte Winkler seine prinzipiell doch eher klassisch angelegte Theorie, daß Sprache "wie ein Transmissionsriemen (...) den intersubjektiven Raum der objektiven

Diskursereignisse mit dem Innern der Subjekte (verbindet)", nicht im Sinne einer Wiedereinsetzung "des Menschen" auf seinen erst kürzlich dekonstruierten Thron verstehen.

Aber was will er dann? Was ihn nervt, sind jene Heilsoffenbarungen, die sich zur Zeit vor allem am Computer und am "Netz" festmachen. Seine Sprachtheorie soll es ermöglichen, etwas "Abstand zu nehmen" - ein Akt, der in der Tat dringend an der Zeit wäre.

Welchen Ort nun bekommen die Rechner? Winkler vermutet als Grundlage der hoch manifesten Totalisierungswünsche, die das universale Medium begleiten, das Versprechen absoluter Transparenz und Übersetzbarkeit. Verschwinden endlich die lästigen Schnittstellen? Der Computer scheint auch, da er alles speichert und ineinander transformiert, jenes "Grauen der Arbitrarität" positiv beantworten zu können, das bisher alle Medien mitführen mußten. "Wenn mit dem digitalen Code ein 'Grundalphabet' gefunden ist, und wenn in der neuen Prinzipschaltungâ alle Speicher- und Informationsmedien aufgehen, so ist es tatsächlich seine synthetisierende Leistung, die die Besonderheit des neuen Mediums und sein Privileg vor den traditionellen Medien ausmacht."

Mit der These, der Computer verspreche eine Heilung, werden zumindest zum Teil die auf die Technik projizierten Erwartungen erklärt. Nicht so recht deutlich wird allerdings, wieso Arbitrarität überhaupt "Grauen" produzieren soll, und es bleibt auch offen, warum eigentlich das Begehren nach dem gemeinsamen Verschmelzen in der Microsoft-Sphäre eine "Illusion" sein soll. Wenngleich hier Schwächen sichtbar werden, bleibt doch Winklers Beobachtung richtig, daß das technisch-mediale Apriori einen "totalitären Zug" trägt. Diese Tendenz sucht er durch eine andere Positionierung der Computersprache, d.h. dem Code, der auf der harten Differenz 0/1 beruht, zu kritisieren. Denn es ist eben die Frage, ob der "universelle" Code wirklich halten kann, was die Szene sich von ihm wünscht. Könnte es nicht sein, daß diese Differenz auf einem ganz grundlegenden und überaus mächtigen kulturellen Verbot beruht? Winkler ist dieser Meinung und daher versucht er den Rechner als Medium von der Noosphäre herunter auf die Erde zu holen.

"Docuverse" macht einen notwendigen Schritt, denn nichts ist im Dokumentenuniversum nötiger als Bücher, die sich so offensiv zur Theoriearbeit bekennen, wie das Winklers. Ein so weitgefaßter Versuch ist natürlich riskant. Der Rezensent zum Beispiel stellt sich die Frage, ob ein Denken, das derart positiv auf Überdetermination setzt, den Fortschritt in der Kritik nicht mit einem Rückschritt in der Theorie bezahlen muß? Unklar bleibt bei ihm die Verwendung des Terminus "Diskurs". Es scheint, daß er mit diesem Begriff die Vorstellung von sprechenden Subjekten und menschlichen Gedächtnissen verbindet. Nun hat aber gerade Foucault versucht, die Ordnung des Diskurses anders, d.h. als System, das "von dem anthropologischen Thema befreit ist",

zu verstehen. Dazu aber hört man von Winkler leider kein Wort.

Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Mit einem Interview von Geert Lovink. Boer-Verlag, München 1997, 381 S., DM 48