Breuer: Der Titel unserer Veranstaltung "Gewerkschaften - Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus" wurde im vorletzten Bezirksinfo der IG Medien mit Fragezeichen versehen. Das war ein Druckfehler und widersprach unserer Diskussion. Ich möchte zu Beginn die These aufstellen, daß auch die Gewerkschaftsbewegung die Kritik der Kapitalverwertung auf die seichte Parole von der "sozialen Gerechtigkeit" heruntertransformiert hat und an der Gesetzmäßigkeit des Kapitals hängt wie der Gehängte am Strick. Wie soll man es sonst verstehen, daß DGB-Chef Schulte bei seinem Bündnis-für-Arbeit-Gespräch mit Kohl im letzten Jahr kreidebleich erklärte, er habe nun erstmals feststellen müssen, daß die Regierung gar nicht für soziale Gerechtigkeit sei?

In der FAZ vom 2. Oktober fand sich folgende kurze Meldung: "IG Metall will Investoren ins Ruhrgebiet locken: Die IG-Metall in NRW will ausländischen Investoren im Ruhrgebiet künftig maßgeschneiderte Tarifpakete anbieten. Auch inländischen Existenzgründern soll auf diesem Weg beim Aufbau eines Unternehmens geholfen werden (...) Die Tarifpakete sollten auf die Bedürfnisse des jeweiligen Unternehmens zugeschnitten werden, sagte Schartau (Bezirksleiter IGM-NRW). Das gelte auch für Kernelemente wie Arbeitszeit, Einkommenshöhe und -entwicklungÖ"

Alternativen zur bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit bedingen immer zuerst die Aufklärung über Ursachen von (Fehl-)Entwicklungen. Um ein Stück dieser Aufklärung geht es uns, die wir uns nicht kastrieren lassen durch die Zwänge und Grenzen der Profitlogik.

Wolf: Warum zahlt zumindest die Mehrheit derjenigen, die hier auf dem Podium sitzen, und die Mehrheit hier im Saal im DGB-Haus brav ihre Gewerkschaftsbeiträge, wenn die Gewerkschaften nur als Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus wirken? Warum waren es gerade auch linke Kollektive, die in den siebziger Jahren aus den Gewerkschaften ausgeschlossen wurden, die um ihre Wiederaufnahme kämpften und heute oft wieder - durchaus mit aufrechtem Gang - "drin" sind? Wir sollten uns dem Thema über die Frage nähern: Waren die Gewerkschaften in früheren Zeiten denn so anders als heute?

Sicher waren sie vor dem Ersten Weltkrieg anders. Doch als die SPD 1914 kapitulierte, machten auch die Gewerkschaften mit und ließen ihre Mitglieder gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern mit Tschingderassabum in den Krieg hetzen.

Sicher waren sie nach dem Ersten Weltkrieg anders, z. B. als sie auf den Kapp-Putsch mit einem - siegreichen - Generalstreik antworteten. Allerdings: 1933 rief der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) zum 1. Mai der Nazis auf, um kurz darauf verboten zu werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten die West-Gewerkschaften als "Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus", indem sie der weit verbreiteten Forderung nach Vergesellschaftung - bis heute in der Verfassung dieses Bundeslandes (Hessen) verankert - diejenige nach der Montan-Mitbestimmung entgegenstellten. Dieselben Gewerkschaften haben dann die Kommunistenhatz mitgemacht. Als die Jugend 1967/68 rebellierte, hatte sich der DGB zu Mai-Feiern in die Säle verkrochen und rief nur noch zu Demos "gegen die Mauer" auf. Als Willy Brandt 1972 mit dem Radikalenerlaß "mehr Demokratie wagte", folgte der DGB mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen: linke Radikale wurden ausgeschlossen. Als die Anti-AKW-Bewegung aufkam, solidarisierten sich die maßgeblichen Gewerkschaften mit der Atomlobby.

Hat sich also der Charakter der Gewerkschaften geändert? Von einer "echten Interessenvertretung" hin zu einem "Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus"? Das ist falsch. Die Gewerkschaften verkörperten schon immer die Dialektik zwischen Integration und - potentieller - Systemopposition. Sie haben schon immer objektiv den Kapitalismus stabilisiert, so wie sie subjektiv - potentiell - ein Medium auch für antikapitalistische Kämpfe waren. Geändert haben sich nicht die Gewerkschaften. Geändert haben sich vielmehr die Rahmenbedingungen:

1. Die öffentlichen Haushalte melden Ebbe. Vor allem haben sich die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Gewerkschaften verändert: Die Rekordarbeitslosigkeit wirkt wie eine bleierne Last.

2. Seit 1982 haben die Gewerkschaften in der Regierung keinen ihnen nahestehenden Ansprechpartner mehr. Die

Unternehmeroffensive wird über die Kabinette des Herrn Kohl direkter umgesetzt. Das heißt nicht, daß eine SPD-geführte Regierung das anders machen würde.

3. Es gibt das Ost-West-Gefälle. Wir haben in den neuen Bundesländern eine doppelt so hohe Erwerbslosigkeit wie im Westen. Die Operation deutsche Einheit war auch eine Operation zur Spaltung der Gewerkschaften. Wenn bei GM Eisenach die Schichtarbeit ausgeweitet wird, dann werden die GM-Belegschaften in Bochum, Rüsselsheim und Kaiserslautern erpreßt, dasselbe zu tun.

4. Auch die gewerkschaftlichen Ansprechpartner im Fall einer rot-grünen Regierung sind unsichere Kantonisten. New Labour in Britannien setzt den Privatisierungskurs fort. Schröder kündigt ähnliches mit seinen Wirtschaftsthesen an. Die Grünen agieren zunehmend wie eine grün lackierte FDP. Selbst in der PDS gibt es Debatten darüber, inwieweit erkämpfte gewerkschaftliche Standards zu verteidigen sind.

5. Lösungen sind mehr denn je nur mit einem internationalen Ansatz möglich. 200 transnationale Konzerne kontrollieren mit ihrem Umsatz gut ein Drittel des Welthandels. Im Grunde gilt auch: Wirkliche Lösungen sind nur möglich, wenn die Standortlogik nicht akzeptiert, wenn des Bundespräsidenten Herzogs "viel beachtete" Rede als das gesehen wird, was sie ist: ein Hetzruf, das Gesetz des Dschungels allüberall durchzusetzen.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen erweisen sich die Gewerkschaften oft als hilflos. Gewerkschaften mögen "Dienstleister" für das Kapital sein. Sicher ist: Sie sind auch veränderbar, sie können wieder zum Medium für breiten gesellschaftlichen Widerstand werden.

Moos: Die Frage, ob wir ein Dienstleistungsunternehmen sind, stellt sich für mich in der Form überhaupt nicht, denn wenn wir uns die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre anschauen, dann ist deutlich geworden, daß der Kapitalismus die Gewerkschaften tendenziell immer weniger braucht. In den USA, in England ist es seit Jahren gang und gäbe, daß die Gewerkschaften an Einfluß verloren haben. Der Kapitalismus in diesen beiden Ländern ist wunderbar gediehen, auch ohne die Gewerkschaften. Und wir erleben es als IG Medien und als DGB-Gewerkschaft in den letzten Jahren sehr schmerzlich, daß auch unsere Funktion innerhalb dieses Systems nicht mehr gefragt ist. Im Organisationsbereich der IG Medien erleben wir, daß es Großbetriebe gibt, wo die Gewerkschaften nichts mehr zu sagen haben: Bertelsmann, Burda in Offenburg, Bauer, da braucht man die Gewerkschaften nicht als Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus, das regelt man auch ohne Gewerkschaften sehr viel besser.

Wir sind als IG Medien nicht Verhinderer einer sozialen Revolte, eines Streiks oder was auch immer. Ich sag' euch mal, wenn ihr vor 'ner Betriebsversammlung steht und referiert über eine Tarifverhandlung und mal ganz zart auffordert, auch über Gegenwehr nachzudenken, und es kommt nichts, es kommt nicht mal 'ne Wortmeldung, und 50 oder 100 Kollegen gucken plötzlich auf den Boden, dann bist du schnell am Ende mit deinem Latein.

Wir haben eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die haben ganz andere Anforderungen an uns als Gewerkschaft. Wir haben über 20 000 Mitglieder, die freiberuflich tätig sind und für die müssen wir ganz neue Dinge entwickeln. Die warten nicht darauf, daß wir ihnen einen Streikaufruf in ihr häusliches Büro oder ins Atelier schicken, sondern daß wir ihnen Hilfestellung geben bei sehr banalen Geschichten von der Vertragsgestaltung bis hin zu Urheberrechtsproblemen. Insofern ist die IG Medien auch eine Dienstleistungsorganisation, aber vor allem für ihre eigenen Mitglieder.

Wir sind derzeit als Gewerkschaft nicht mal in der Lage, unsere Tarifstandards zu halten. Wir sind auch Sachwalter eines geordneten Abbaus. Das ist nicht meine Vorstellung von Tarifpolitik und Gewerkschaftspolitik, aber das ist ein Ausdruck der Kräfteverhältnisse, unter denen wir derzeit arbeiten.

Elsässer: Zur These "Gewerkschaften als Dienstleistungsunternehmen des Kapitals": Es gibt eine solche Tendenz, und die ist zu kritiseren. Aber ich habe nicht vor der Dienstleistungstendenz der Gewerkschaften die meiste Angst, sondern vor einer bestimmten Form von Widerstand. Was war denn die militanteste Demo der Gewerkschaft in den letzten ein, zwei Jahren? Das war die Bauarbeiterdemonstration in Berlin, als sie den Reichstag gestürmt haben. Das war wirklich supermilitant: Die haben ausländische Kollegen gejagt. Unter den Augen der Polizei. Und bei der IG-BAU - es gibt entsprechende Umfragen - da wählten 20 Prozent schon 1995 die Reps. Nach diesen Krawallen am Reichstag gab es eine große Abschlußkundgebung, da hat IG BAU-Chef Wiesenhügel geredet, da hat Zwickel geredet, da hat Schröder geredet - kein Wort der Distanzierung von den rassistischen Übergriffen. Und auch von anderen Gewerkschaften gab's keinen Proteststurm.

Das Problem, vor allem im Osten, ist nicht die Dienstleistungstendenz der Gewerkschaften. Das Problem im Osten ist nicht, daß die Gewerkschaft sich zu lasch dafür einsetzt, daß die Ossis nicht auf 100 Prozent Lohnangleichung kommen. Sondern das Problem ist das absolute Versagen der Gewerkschaften, vor allem im Osten, vor dem Rassismus, der in großen Teilen der gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Basis zu finden ist. Die Dienstleistungstendenz wird, gerade bei der IG BAU, überlagert von einer militanten, mit Anti-Kapitalismus kokettierenden, sozialfaschistischen Tendenz.

Ebermann: Die Gewerkschaften sind Instrumente zur Herstellung der Volksgemeinschaft, die sich nach innen gegen die Schmarotzer und nach außen sowohl gegen die Untermenschen als auch gegen die konkurrierenden imperialistischen Mächte richten. Das ist das Wesen des Bündnis für Arbeit. Das ist das Wesen des Eingehens auf die Notwendigkeiten des Standorts Deutschlands. Wer die Mit-Organisation des Verzichts seitens der Gewerkschaft einfach subsumiert unter: "Aber ohne uns wäre es doch auch nicht besser!", blockiert sich damit die Möglichkeit, überhaupt noch analytisch zu denken. Wer sagt: "Ich kenne einen fortschrittlichen Gewerkschaftssekretär, der organisierte doch mal eine Kampfhandlung, gegen die man so viele Einwände nicht haben kann", blockiert sich damit die Möglichkeit überhaupt noch analytisch zu denken.

Winfried Wolf hat aus der Vergangenheit der Gewerkschaftsbewegung viele Verbrechen geschildert. Aber ich wußte, die Schilderung der Verbrechen ist zweckhaft konstruiert. Der Zweck ist der: Weil früher so viele solcher Dinge begangen wurden, brauchen wir uns doch über das, was jetzt läuft, nicht zu beunruhigen. Die Gewerkschaft war schon immer so, es war schon immer schlimm, deswegen verharren wir auf unserem Posten.

Die Sehnsucht, daß auf dem Weltmarkt Deutschland unterliegen muß - das ist die wahrscheinlich beste Möglichkeit, um Leben zu retten und um Verarmung irgendwo anders zu verhindern. Leider tritt die Pleite dieses Projekts Deutschlands empirisch vorerst nicht ein, denn leider ist Deutschland immer noch ein Billiglohnland. Leider gibt es keine Kapitalflucht aus Deutschland, sondern das real investierte Kapital pro Jahr beträgt 751 Milliarden Mark im Inland und 48 Milliarden Mark im Ausland. Das bedeutet sechs Prozent Auslandsinvestition, 94 Prozent Inlandsinvestition. Nein, die hauen nicht ab. Weil sie hier niemand erschreckt, weil wir die besten Anlagebedingungen und die am besten disziplinierte Arbeiterklasse haben, die hervorragendste Infrastruktur, die dafür sorgen, daß dieser Standort andere Standorte niederkonkurriert.

Ulli Breuer ist Vorsitzender IG Medien im Bezirk Frankfurt;

Thomas Ebermann lebt vorwiegend in Hamburg-Horn;

Manfred Moos arbeitet als Tarifexperte im Hauptvorstand der IG Medien;

Winfried Wolf ist Bundestagsabgeordneter der PDS.

Gekürzte Fassung des Mitschnittes einer IG Medien-Veranstaltung am 8. Oktober in Frankfurt/Main.