Brecht!

Medialer Rundumschlag zu Bertolt Brechts 100. Geburtstag

Wenn ein Dichter zum Fernseh-Serienhelden wird, hat das fatale Folgen, sie klingen etwa so: "Am 10. Februar 1898 wird Eugen Berthold Friedrich Brecht in Augsburg geboren. In seinem Leben veröffentlicht Brecht zahlreiche Theaterkritiken, Hörspiele, Film-Manuskripte, Romane, Gedichte und Theaterstücke. Er nutzt konsequent die unterschiedlichen Medien und läßt sich aus heutiger Sicht als multimedialer Autor kennzeichen."

Der solcherart von den Fernsehverwertern im 74seitigen Presseheft vorgestellte Brecht würde 1998 also 100 Jahre alt werden. Zum Auftakt einer umfangreichen Retrospektive anläßlich des runden Geburtstages jenes Autors, der "neben Thomas Mann der weltweit bekannteste deutsche Schriftsteller der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts" ist, überträgt der Senderverbund 3sat, in Zusammenarbeit mit S2 Kultur, SR, DRS 2 und dem Suhrkamp Verlag ab dem 6. Dezember, was in den Archiven zu finden war: "Alles, was Brecht ist Ö" umfaßt einen Zeitraum von sieben Wochen und etwa 4 700 Sendeminuten: Mehr als 100 Beiträge im Fernsehen und Rundfunk, so viel, wie noch keinem Schriftsteller respektive Theatermacher jemals gewidmet wurden. Gesendet werden Aufführungen, Fernsehspiele, Filme und Dokumentationen, Hörspiele und Rundfunkmitschnitte quer durch achtzig Jahre. Neuproduktionen, "die sich mit aktuellen Bezügen und Entwicklungsperspektiven der Brecht-Rezeption auseinandersetzen", komplettieren den multimedialen Rundumschlag.

Im Mittelpunkt stehen die Theaterinszenierungen, die, ebenso wie verschiedene Verfilmungen, einen Vergleich zwischen dem ästhetischen und politischen Umgang mit Brechts Werk in der DDR und der BRD erlauben. Dem gehen frühere Arbeiten voraus, an denen Brecht noch selbst beteiligt war. So wird am 11. Dezember der Spielfilm "Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?" gezeigt, zu dem Brecht und Ernst Ottwalt das Drehbuch schrieben, Regie führte Slatan Dudow (D 1932). Dieser einzige eindeutig kommunistische Film der Weimarer Republik wurde unter großen Schwierigkeiten unabhängig produziert und bald verboten. Über die Auseinandersetzungen, die der Film nicht nur bei der Zensurbehörde auslöste, informiert anschließend das Dokumentarspiel "Feigenblatt für Kuhle Wampe" (1975). "Brecht machte später dem Zensor das ironische Kompliment, er sei einer der wenigen gewesen, die den Film wirklich verstanden hätten."

In Brechts Münchner Zeit und als Ausdruck seiner Bewunderung für Karl Valentin entstand die filmische Groteske "Mysterien eines Frisiersalons" (Buch und Regie: Bertolt Brecht/Erich Engel / Karl Valentin, 1923), zu sehen am 14. Dezember.

Alle bedeutenden Stücke sind, manchmal sogar mehrfach, vertreten, wobei die Qualität der Inszenierungen nicht immer überzeugt.

"Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" wird einmal in der Regie von Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch

(Berliner Ensemble, 1974) mit Ekkehard Schall in der Titelrolle gezeigt (4. Januar), ein andermal in der Regie von Heiner Müller (BE 1996) mit Martin Wuttke (3. Januar).

"Die Gewehre der Frau Carrar" gibt es als DDR-Fernsehinszenierung des BE (1953), Regie: Egon Monk, mit Helene Weigel, (28.Dezember) dann als BRD-Fernsehinszenierung von demselben Regisseur, mit Therese Giehse in ihrer letzten Rolle (5. Januar). Diese prägte auch die legendäre Inszenierung von "Die Mutter" an der Berliner Schaubühne (13. Dezember), damals noch am Halleschen Ufer, Regie: Peter Stein u.a. (1971).

Zu den neueren Produktionen gehört die von Brecht bearbeitete "Antigone" des Sophokles (16.Januar.) in der Verfilmung von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub (1991).

Die "Dreigroschenoper", der überraschende Welterfolg von Brecht und Kurt Weill, wurde bereits 1930/31 von Georg Wilhelm Papst mit Lotte Lenya, Carola Neher, Ernst Busch verfilmt (7. Dezember). Die Autoren klagten daraufhin vergeblich gegen die "Verfälschung" ihres Werkes, dessen marxistische Tendenz zum "bezaubernden Märchen" hingedrechselt wurde. 1962 verfilmte Wolfgang Staudte die "Dreigroschenoper" mit Hildegard Knef, Curd Jürgens und Sammy Davies (18. Januar). Am 6. Dezember ist der Dauerbrenner in der Regie von Hans Hollmann aus dem Schauspiel Frankfurt/Main (1995) zu sehen, wozu das Ensemble Modern die Musik in der Originalversion liefert.

Am 24. Januar wird wieder einmal die ruhmreiche "Coriolan"-Aufführung des Berliner Ensemble von Manfred Wekwerth / Joachim Tenschert (1964, aufgezeichnet 1978) ausgestrahlt, eine Erinnerung an die besseren Jahre dieses Hauses.

Zurück zu dessen Anfängen führen am 2. Januar die schwarz-weißen Wackelbilder aus der 8 mm-Kamera des 18jährigen Hans-Jürgen Syberberg, der 1953 am BE während der Proben zu "Urfaust", "Puntila" und "Die Mutter" filmen durfte, was auf der Bühne passierte, jedoch auf keinen Fall den Meister Brecht. Dieser ist in den BE-Probenmitschnitten von Hans Bunge aus den Jahren 1954-56 am 25. Januar im Süddeutschen Rundfunk / Südwestfunk (S2 Kultur) zu hören.

Von Brechts Schwierigkeiten im US-amerikanischen Exil kündet der Spielfilm "Auch Henker sterben" ("Hangmen Also Die", USA 1943, Regie: Fritz Lang, Musik: Hanns Eisler). Plötzlich saß in typischer Hollywood-Manier ein weiterer Autor (John Wexley) an seinem Drehbuch, es kam zu Kontroversen, Brecht distanzierte sich später vehement vom fertigen Film (16. Dezember). Er spürte die "Enttäuschung und den Schrecken der geistigen Arbeiter, denen ihr Produkt weggerissen und verstümmelt wird". (Karsten Witte)

Den Abschluß des Fernsehprogramms bildet am 25. Januar ein Fundstück. Der sowjetische Episodenfilm "Die Mörder machen sich auf den Weg" (1942, Regie: Wsewolod Pudowkin / Juri Taritsch), nach Brechts Szenenfolge "Furcht und Elend des Dritten Reiches", ist "die erste, obendrein verbotene russische Brechtverfilmung", angelegt als "operativer propagandistischer Agitfilm" (Oksana Bulgakowa).

Auch im Rundfunk wird Brecht retrospektiv gewürdigt. Am 8.Januar gibt es in S2 "Das Lehrstück aus der Katastrophe: Von der 'Sintflut' zum 'Ozeanflug'", mit Tondokumenten über Brecht als Pionier des Radios und dem "Lindberghflug. Radiophonische Kantate", Musik: Paul Hindemith und Kurt Weill, Leitung: Hermann Scherchen. Der dirigierte auch die heftig umkämpfte Uraufführung der "Verurteilung des Lukullus" (Staatsoper Berlin, 1951, Musik: Paul Dessau). Die frühere Hörspiel-Form mit dem Titel "Das Verhör des Lukullus" ist am 22.Januar in S2 zu hören (eine Produktion des NDR 1956). Über den "Abschied vom Lehrer der Werktätigen" informiert am 23. Januar S2 mit der Trauerfeier für Brecht im Berliner Ensemble am 18. August 1956, Redner waren unter anderem Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und Paul Wandel.

Natürlich äußern sich in 3sat alle möglichen Leute ( z.B. Siegfried Unseld, Friedrich Luft, Erwin Strittmatter oder Hans Mayer) über ihre Kontakte, ihr Verhältnis zu Brecht. Im Rundfunk wird Hanns Eisler von Hans Bunge unter dem Titel "Fragen Sie mehr über Brecht" (4. Februar, S2) interviewt, ebenso Manfred Wekwerth von Stephan Reinhardt (8. Februar.).

In Sachen Hanns Eisler, der ebenfalls im nächsten Jahr seinen 100. Geburtstag feiern würde, gibt es am 15. Januar in 3sat eine kleine, feine Dokumentation namens "Solidaritätslied" von Larry Weinstein (1997).

Unverständlich ist, weshalb diese große Werkschau - von einigen wenigen Filmen abgesehen - ausschließlich auf den deutschsprachigen Raum beschränkt ist. Somit fehlt zum Beispiel ein Regisseur wie Giorgio Strehler. Unverständlich auch, weshalb sämtliche Brecht-Inszenierungen der einstigen BE-Intendantin Ruth Berghaus ignoriert wurden, die seit den siebziger Jahren einen künstlerischen Neuansatz fernab von Modell-Dogmen zu entwicklen versuchte (zuletzt "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Stuttgart 1992, "Der kaukasische Kreidekreis", Wien 1993, "Die heilige Johanna der Schlachthöfe", Hamburg 1995). Auch Einar Schleefs "Puntila" (BE 1996) und, als Vertreter einer ganz anderen szenischen Herangehensweise, Frank Castorfs ambitionierter "Puntila" (Hamburg 1996) fehlen.

So viel Brecht gab es noch nie und nirgends. Sollten trotzdem Fragen offen sein, hilft nur die Literatur, z.B. die neu erschienene "Brecht Chronik" von Werner Hecht, 1 315 Seiten stark. Hechts Riesenbaby versammelt sämtliche renommierte Literatur, die bislang über Brecht erschienen ist, trägt akribisch Fakten zusammen, korrigiert Legenden, und was an Fehler dennoch erhalten geblieben ist, wird noch lange erhalten bleiben.

Werner Hecht: Brecht Chronik 1898-1956. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997, 1 315 S., Subskriptionspreis DM 98, später DM 128