Keine Lust auf Literatur

Lektüren ist die ideale Literaturzeitschrift für Menschen, die ungern lesen

"Nobuyoshi Araki macht Fotos zwischen Erotik und Tod", heißt es auf Seite einundfünfzig in der ersten Ausgabe einer Zeitschrift, die Lektüren heißt. "Lektüren sichtete das erotische Angebot des Bücherherbstes", werden die drei Seiten Aktfotografie angekündigt. Viel mehr Text zu diesem Thema gibt es in der neuen "Literaturzeitschrift" nicht. D.h. über Sex und ähnliche Probleme berichtet man schon. Die "Geheimnisse der starken Frauen" werden gelüftet, im "Grundkurs Reichtum" werden die "Tricks und Ticks der Millionäre" verraten, und der unmögliche Wolf Wondratschek darf sich noch unwichtiger machen, indem er mit der Etage im Hamburger Interconti angibt, die nach ihm benannt ist.

Die neue Publikumszeitschrift aus dem Holtzbrinck-Verlag wird für ein Publikum gemacht, das noch erfunden werden muß. "Lies mich!" steht auf dem Cover, doch es gibt in Lektüren so wenig zu lesen, daß Chefredakteur Knud von Harbou seine Liebe zur Textfeindschaft erklären muß: "So will Lektüren Ihnen ein wenig die Orientierung erleichtern in der Literatur - ein Führungsanspruch, der uns vor allem ein Verführungsanspruch sein wird: Denn das Lesen hat immer noch, allen Unkenrufen zum Trotz, sehr viel mit Lust zu tun." Fürwahr, die Leidenschaft des Unkenrufers, diese und jene, vergeht während der Lektüre geschwind, es wird weder geführt noch verführt, wobei man sich darüber auch freuen kann: Auf das schlechte Gefühl danach kann nämlich verzichtet werden.

Die angeblich "10 besten Bücher" werden vorgestellt, sechs Kritiker geben jeweils eine Note, zehn Punkte wird der Nummer eins verliehen, ein Punkt der Nummer zehn. Ein Zahlenspiel, über das sich nur Leser freuen werden, denen es scheißegal ist, warum ein Buch nun gut oder schlecht ist. Wer nach der Lektüren-Bewertung zum Händler schreitet, der darf von der empfohlenen Schwarte nicht enttäuscht sein. Selbst im Rezensionsteil erfährt man selten etwas über die Sprache eines Autors, die Kritik der Literatur besteht zumeist in der kurzen Inhaltsangabe, sie existiert also gar nicht. Wie sollen aber auch Autoren, denen das Schreiben fremd ist, über Schreiber urteilen? Ihnen fehlen schlichtweg die Begriffe, und was die Anschauung bietet, läßt nicht nur auf schlechten Geschmack schließen. Ein Besprecher namens Harro Segeberg bespricht in Lektüren den fünften Band von Ernst Jüngers Tagebuchtorso "Siebzig verweht". Der überforderte Schreiberling steht vor dem Problem, daß er einerseits Kohls Lieblingsschriftsteller im Massenblatt nicht verreißen darf und andererseits mangels literarischer Kompetenz dazu auch gar nicht in der Lage ist, obwohl ihm Jüngers Geistesblitze und Donnersätze wenig zusagen. Und so rettet sich Segeberg mit diplomatischen Nullaussagen, die jeden Leser - je nach Lage der Dinge - wirklich Vergnügen oder auch Ärger bereiten können: "Dies alles geschieht jedoch in Aufzeichnungen, die erst dem mit der Werk- und Wirkungsgeschichte Jüngers bereits vertrauten Leser - je nach Lage der Dinge - wirklich Vergnügen oder auch Ärger bereiten kann."

96 Bücher werden in der ersten Nummer von Lektüren abgehandelt. Mit diesem Programm kann selbst der lausige Anspruch, "Orientierung zu erleichtern", nicht eingelöst werden, man ist vielmehr verwirrt von den vielen Kurztartikeln, die im übrigen nicht nur vom Inhalt her einer Wer vollgestopft mit Anzeigen aus der Bücherbranche, worüber sich die Herausgeber freuen werden, doch über die Geldfixierung vergißt man den anderen Fetisch, der ja auch verkauft werden soll, nämlich das Buch. Sein Tauschwert hängt vom Gebrauchswert des Inhalts ab, also von der Literatur; einen Gebrauchswert können die Mitarbeiter von Lektüren allerdings nur bestimmen, wenn es um Kochbücher geht. Lektüren ist eines vor allem nicht: eine Literaturzeitschrift. Aber was dann?

Die Verleger werden das "Magazin zum Buch" eine Weile als ihr Werbeblatt mißverstehen. Doch genau wie die von der überdurchschnittlich unbegabten Georgia Tornow moderierte "Bücher"-Sendung ist Lektüren eigentlich ein Lese-Ersatz. Wer Freude an dem neuen Format auf n-tv hat, wird auch Lektüren mögen, der wird sich höchstens zu Weihnachten einmal ein Buch zulegen, und zwar als Geschenk für die belesene Erbtante. Beide Produkte sind sich darin ähnlich, daß sie vom Produkt abraten, das sie vermarkten. Lektüren liest und Tornows Gequatsche goutiert, wer seine Unlust auf die Lektüre bestätigt wissen will, wer in der Kneipe aber nicht als Depp dastehen möchte, wenn über die Geschichten von der Frankfurter Buchmesse, die Hits und Flops auf dem Buchmarkt geschwatzt wird. Peinlich nur, daß in der Abteilung "News von A-Z" hauptsächlich über Ereignisse informiert wird, die Monate her sind.

Der Dezemberausgabe ist eine "Leseprobe" beigeheftet, im Extraheft zum Herausnehmen und Sammeln. Es handelt sich um einen Ausschnitt von Birgit Vanderbekes Roman "Alberta empfängt einen Liebhaber". Darin ist folgender Satz zu lesen: "Irgend etwas geht zwischen Männer und Frauen einfach immer daneben." Die Dumpfheit der brandenburgischen Schriftstellerin wird von dem Lektüren-Kommentar sogar übertroffen: "Das ist so ein typischer Satz von Birgit Vanderbeke. Zielsicher trifft er das Thema der Autorin: Männer und Frauen, Mütter und Väter, Familien." Mehr braucht über Vanderbekes Alberta-Schinken nicht gewußt zu werden, die Dame hat offensichtlich kein Thema. Ich bin mir sicher, die Vanderbeke wird die Anzeigenaktion in Lektüren noch bereuen.

Zugegeben, ein Artikel hat mich doch neugierig gemacht. Bislang habe ich von Dario Fo keine Zeile gelesen, und wahrscheinlich hätte ich mich mit seinen Werken auch in Zukunft nicht auseinandergesetzt. Doch in Lektüren stieß ich auf eine Glosse, die seinen Nobelpreisgewinn zu geißeln versucht: "Nichts ist in Ordnung. Willkür allenthalben. Keine Gerechtigkeit." Dorothea Friedrich, Schöpferin dieses Wunders an Parataxe, wird eine Stunde an ihrem Einstieg gebastelt haben. Respekt, Herr Fo!

Lektüren erscheint monatlich im Georg von Holtzbrinck Verlag und kostet 5 DM