Der halbe Skandal

Der Fall Roeder ist der bundesdeutschen Öffentlichkeit einen Eklat wert. Die Vertriebenenverbände betreiben geräuschloser die gleiche Politik

Endlich ist es wieder einmal soweit: Die Bundesrepublik hat einen handfesten, großen Skandal. Die Nachricht, daß der Nazi-Terrorist Manfred Roeder 1995 einen Vortrag an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr gehalten hat, versetzte die Redakteurinnen und Redakteure bundesdeutscher Tages- und Wochenblätter in Aufruhr. Die Woche machte sich historisch-personifizierend über "Rühes Waterloo" her; die Zeit witterte "Die Nazis im Nacken", die Verteidigungsminister Volker Rühe und die Bundeswehr ins Zwielicht bringen würden; der stern legte auf dem Titel gleich noch einen weiteren Skandal nach: Uniformierte Unteroffiziere der Bundeswehr posieren mit Hitler-Porträt und einem auf einem Hakenkreuz thronenden Reichsadler vor einer Hakenkreuzfahne.

An anderer Stelle - im Neuen Deutschland, in der tageszeitung oder im stern - konnte man dann nachlesen, was seit Jahren sowieso schon jeder wußte, der es wissen wollte: Was Roeder für einer ist. Er hat die Nazi-Eliteschule "Nationalpolitische Erziehungsanstalt" (NPEA bzw. NAPOLA) absolviert, war Kriegsfreiwilliger im Zweiten Weltkrieg, hat das Vorwort für das Buch "Die Auschwitz-Lüge" seines Nazi-Kumpels Thies Christophersen verfaßt, feierte regelmäßig Hitlers Geburtstag, war Gründer der rechtsextremen Terroreinheit Deutsche Aktionsgruppe (DA) und wurde 1980 wegen Brand- und Sprengstoffanschlägen der DA, bei denen zwei Menschen starben, zu 13 Jahren Haft verurteilt. 1990 wurde er vorzeitig entlassen.

Kaum eine Rolle spielen dagegen solche Fakten über Roeder, die darauf hinweisen, daß der Skandal nicht in dessen Auftritt bei den soldatischen Kadern an sich besteht, sondern in der Selbstverständlichkeit, mit der das Thema seines Referates hierzulande diskutiert wird: Die "Übersiedlung von Rußlanddeutschen in den Raum Königsberg" - Roeders Spezialgebiet. Im neofaschistischen "Deutsch-Russischen Gemeinschaftswerk - Förderverein Nord-Ostpreußen" setzt sich Roeder als Vorstandsmitglied dafür ein, daß "Nord-Ostpreußen" schrittweise in einen "Freistaat Preußen" umgewandelt wird. Vorher soll allerdings eine abschließende "Besiedelung" des Gebietes durch ehemalige Sowjetbürger - sogenannte deutsche Volkszugehörige - stattfinden.

Roeder ist nicht der einzige, den die Re-Germanisierung brennend interessiert. Neben der "Aktion 'Deutsches Königsberg'" seines erfolgreicheren Konkurrenten Dietmar Munier aus Kiel sind die es vor allem die Vertriebenenverbände, die die ehemaligen großdeutschen Ostgebietezu zu ihrem ideologischen und territorialen Bezugspunkt gemacht haben. Deren Dachverband Bund der Vertriebenen (BdV) aber genießt breite gesellschaftliche Achtung; zahlreiche Unionspolitiker haben Posten in seinen Führungsgremien inne. Auch die Bundesregierung selbst förderte seit 1991 mit insgesamt rund

25 Millionen Mark die Ansiedlung von "Rußlanddeutschen". Doch im BdV und seinen Mitgliedsverbänden wird nicht nur Roeders Hamburger Referatsthema offen diskutiert, wie Roeder selbst bemühen sich auch die offiziösen Vertriebenenvertretungen, ihre völkisch-nationale Ideologie in Polen und Rußland vor Ort umzusetzen. Dafür stehen ihnen seit Jahrzehnten erkleckliche Summen aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung (vgl. Jungle World, Nr.47/97).

1940 hatte der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, in seinem Papier "Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten" die wesentlichen Züge der deutschen Germanisierungs- und Ostpolitik zusammengefaßt. Die Bevölkerungsgruppen des Ostens sollten in möglichst "unzählige kleine Splitter und Partikel" zersetzt, ihre intellektuelle Bildung nahezu völlig abgeschafft werden. Aus Himmlers "Gedanken" entstand der berüchtigte "Generalplan Ost", in dem die "Besiedlung" der neu gewonnenen Ostgebiete nach Kriterien wie "Siedlungsplanung", "Auslese" der zur "Besiedlung" genutzten "Volksteile", konkrete Durchführung und Finanzierung organisiert wurde.

Daß deutsche Politik dieses großdeutsche Modell nicht mehr aufgreifen kann, ist offensichtlich. Der völkische Kern des Generalplans ist aber in Regermanisierungs- und Volkstumspolitik der Vertriebenenverbände erhalten geblieben. Doch die Strategien sind heute subtiler. Während die NS-Politik die militärische Eroberung als Voraussetzung für die Germanisierung ansah, setzt man heute auf kleine Schritte, die das Ziel verfolgen, den Osten wieder unter deutsche Dominanz zu bringen.

Beispielsweise baut die Junge Landsmannschaft Ostpreußen ein Haus "in Ostpreußen", das vor allem als deutsche Sprachschule dienen soll. 14 Landwirte aus Schleswig-Holstein haben bei Tschernjachowsk 400 Hektar Land gepachtet. Der Verein Partnerschaft Ostpreußen e.V. unterhält mit Unterstützung der "Kreisgemeinschaft Labiau" in der Landsmannschaft Ostpreußen (LO) im Großraum Polessk einen holzverarbeitenden Betrieb. Die Arbeitsgemeinschaft Nord-Ostpreußen (AGNO), ein Zusammenschluß von 19 Organisationen - darunter zehn LO-Kreisgemeinschaften und der Verein zur Förderung der Rußlanddeutschen in Trakehnen e.V. -, koordiniert von Schleswig-Holstein aus zahlreiche Germanisierungsprojekte, zum Beispiel Deutschunterricht im Kaliningradskaja Oblast.

Eine der Organisationen, die die Politik der kleinen Schritte vor Ort umzusetzen sucht, ist die sogenannte Ostpreußische Landesvertretung (OLV), ein Zusammenschluß von Vertretern der "Heimatkreisvertretungen" der Landsmannschaft Ostpreußen und Delegierten der LO-Landesgruppen. Es handelt sich bei dieser Vereinigung um eine Art von der LO organisierte deutschen Exilregierung. Auf der diesjährigen Tagung der OLV Ende November in Bremen wies der LO-Sprecher und CDU-Politiker Wilhelm von Gottberg darauf hin, daß "die materielle Unterstützung der Bevölkerung durch die Heimatkreisgemeinschaften und diverse andere Organisationen" Früchte zeige. Von Gottberg faßte die Situation vor der OLV treffend zusammen: "Das Königsberger Gebiet hängt am Tropf der Bundesrepublik". Weiter führte er aus: "Im Rahmen der bevorstehenden Ost-Erweiterung der EU wird dem Königsberger Gebiet eine Brückenfunktion zwischen Ost und West zukommen. Deshalb ist es für die Ostpreußen wichtig, auf unterer Ebene Kontakte zu knüpfen und auszubauen; und mit der Unterstützung für Rußlanddeutsche und Russen Freunde zu gewinnen, die wir vielleicht noch einmal brauchen werden." Mit welchem Ziel Gottberg diese Freunde gewinnen will, machte er in seinem Rechenschaftsbericht für 1997 als Sprecher der LO klar. Man müsse sich "die Option Ostpreußen" erhalten. Schließlich sei für die Landsmannschaft Ostpreußen immer "ein Teil Deutschlands" geblieben.

Die Landsmannschaft Ostpreußen hat es bis jetzt noch nicht auf die Titelseiten der bundesdeutschen Presse geschafft, obwohl oder weil die Finanzierung ihrer Germanisierungsanstrengungen durch die Bundesregierung eine Zusammenarbeit deutlich macht, von der Roeders Verein nur träumen kann. Im kommenden Jahr wird die Landsmannschaft Ostpreußen ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern. Ob das Fest in der "alten Heimat" begangen werden kann, ist heute noch ungewiß. Als sicher hingegen kann gelten, daß ihre Form der konkreten Germanisierung auch in Zukunft keinen Skandal auslösen wird. Presseknaller wie Brand- und Sprengstoffanschläge sind nicht der Stil der Landsmannschaften.