Propaganda als Wissenschaft

An der Bundeswehr-Hochschule in München lehrt einer der tüchtigsten Geschichtsrevisionisten: Für Franz W. Seidler hat der Faschismus die Einigung Europas vorbereitet

Wie nennt man Postillen, die einen Juden mit den Worten "Töte die Deutschen" als Schlagzeile zitieren? Falsch. Focus ist zwar politisch immer öfter mit der Jungen Freiheit per Du, aber wir werden uns hüten, das redaktionelle Umfeld der bunten Anzeigen "nazistisch" zu nennen. Zumal der zitierte Ilja Ehrenburg nicht ausdrücklich als Jude präsentiert, sein Zitat nicht explizit zur Legitimation der von Ernst Nolte erfundenen "defensiven Gaskammer" (wie Augstein, lang ist's her, treffend formulierte) benutzt wird. Focus preist mit dem reißerischen Titel und mit Bildunterschriften wie "Grausam: abgezogene Fußhaut" eine Kampfschrift gegen die Wehrmachtausstellung namens "Verbrechen an der Wehrmacht". Autor der "Dokumentation" aus dem Verlag Pour le Mérite ist Franz W. Seidler.

Um die Wehrmacht als Opfer darzustellen, wird ein Panoptikum menschlicher Grausamkeit aufgeboten: ausgestochene Augen, ausgerissene Fingernägel und Zungen, "beim Verhör verbrühte Hände, tödliche Bajonettstiche in den Rücken gefangener, gefesselter Wehrmachtssoldaten, sogar Kannibalismus". Szenen wie aus einem Splatter-Film. Doch, so Focus, "bezeugt und belegt". In den Dokumenten der "Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts". "Dort", so heißt es zur die Verläßlichkeit der Dokumente, "arbeiteten bis 1945 erfahrene Strafrichter, Gerichtsmediziner und Gutachter, Amtsgerichte waren vom Reichsjustizministerium zur Mitarbeit verpflichtet. Alle Protokolle unterschrieben vernehmende Richter, Protokollführer und vereidigte Zeugen."

Man reibt sich die Augen angesichts dieser abenteuerlichen Variante dessen, was geschichtswissenschaftlich "Quellenkritik" heißt. Doch es geht noch weiter: "Das", also die Tatsache, daß Nazi-Strafrichter, Nazi-Gerichtsmediziner, Nazi-Gutachter usw. die Dokumente erstellten, "läßt Verfälschungen, textilen Irreführungen oder willkürlichen Behauptungen keinen Raum" - Propaganda als Wissenschaft.

Als Gewährsmann für die Zuverlässigkeit der Nazi-Dokumente wird der US-Amerikaner Alfred M. de Zayas herangezogen. De Zayas, bekannt als eifernder Vielschreiber gegen Goldhagen in FAZ, Critic-n und Ostpreußenblatt, ist Experte in menschelnder "komparativer Trivialisierung" (Peter Gay) der Naziverbrechen. "Es gibt", so lautet sein Credo im Deutschland-Magazin, "Verbrechertum und Sittlichkeit gleichzeitig - in allen Ländern, bei allen Völkern."

Armee kämpfte gegen Armee, "das Völkerrecht wurde von beiden Seiten gebrochen". Kein Wort zu Kriegsschuld, intendiertem "Vernichtungskrieg" der Nazis, Judenvernichtung. Die Ehre der Wehrmacht wird gerettet. Hitlers "Kommissarbefehl" sei von vielen Wehrmachtsoffizieren als "schändliche Order" befunden worden. Hitlers (angeblich unwilligen) Vollstreckern werden die "Tiraden" Ilja Ehrenburgs gegenübergestellt. Solche Ehrenburg-"Belege" liest man regelmäßig in der rechtsextremen Presse. Zuletzt in einem "Gutachten", das der pensionierte wissenschaftliche Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Joachim Hoffmann, für den Auschwitzleugner Germar Scheerer (geb. Rudolf) verfaßte, womit die Holocaust-Leugnung offiziöse Weihen erlangte (vgl. Jungle World, Nr. 47/97).

Auch Seidlers Pamphlet genießt offiziösen Rang. Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte an der Münchner Universität der Bundeswehr. Wenn er dort so lehrt, wie er publiziert, müssen seine Lehrveranstaltungen als Kaderschulung für die "Neue" Rechte angesehen werden - Wissenschaft als Propaganda. Denn die "Neue" Rechte ist sein Betätigungsfeld. Seidler war Unterzeichner des Aufrufs zum 8. Mai und des Berliner Appells, beide von Rainer Zitelmann und Umfeld lanciert. Seidler war Mitbegründer der überparteilichen Vereinigung "Stimme der Mehrheit", zu deren Mitgliedern unter anderem Herbert Fleissner, die nationalliberalen FDP-Promis und der Vordenker der "Neuen" Rechten Karlheinz Weißmann zählen.

Seidlers Bücher gehören zur historischen Grundversorgung der "Neuen" Rechten, zumeist verlegt von Herbert Fleissner, dem Spezialisten für "Braunes und Halbbraunes" (Hans Sarkowicz). Seidlers Apologie Fritz Todts ("Baumeister des Dritten Reiches", München 1986) ging selbst dem FAZ-Rezensenten zu weit. Die Junge Freiheit geriet über Seidlers Einfühlung in die "weltanschauliche, politische oder soziale Motivation" der Kollaborateure ("Die Kollaboration 1939-1945", München 1996) ins Schwärmen: "In den Vorstellungen von einer neuzugründenden Wirtschaftsmacht Europas, in der Frankreich und Deutschland dominieren sollten, um ein Gegengewicht zu den USA zu bilden, zeigen sich Ideen, die heute wieder auf der Tagesordnung stehen. Auch die kulturelle Integration Europas spielte eine große Rolle." Schade, daß die Menschen in Oradour-sur-Glane und die nach Auschwitz deportierten französischen Juden diese Einsicht in das deutsch-französische Versöhnungswerk zur europäischen Einigung nicht mehr vernehmen können.

Anzunehmen, daß die "neurechten" Aktivitäten des Bundeswehrprofessors im Zuge des derzeitigen Bundeswehrskandals politische Konsequenzen nach sich ziehen könnten, wäre freilich illusorisch. Das Verteidigungsministerium deckt seit Jahren Hoffmanns Holocaust-Leugnung, Alfred de Zayas wurde 1996 vom aus Bundesmitteln reichlich alimentierten und von Bonner Prominenz getragenen Verein für das Deutschtum im Ausland mit dem Kulturpreis ausgezeichnet, und Franz W. Seidler war der Bonner CDU-CSU-Fraktion eine Einladung zu einer Anhörung wert - als Sachverständiger.