Tango - Krisentanz der Kleinbürger?

Warum agieren im Land des preußischen Paradeschrittes weltweit die meisten Tango-Tänzer außerhalb Argentiniens? Eine Tänzerin und eine Kritikerin, ein Choreograph und ein politischer Flüchtling im Gespräch

Greffrath: Was bedeutet das, wenn man im Berlin dieser Tage jeden Abend in der Woche mindestens an einem Ort Tango tanzen kann? Die Tango-Szene in Berlin zählt nach einer Schätzung 1 500, nach einer anderen 10 000 Anhänger, und aus manchem Ghetto-Blastern kommt in einer lauen Sommernacht nicht Techno, sonderm es quillt "Adios Muchachos" heraus? Muß eine Musik, die von der Melancholie des Abschieds lebt, nicht am Ende eines Jahrhunderts, ja Jahrtausends Zulauf haben? Was wird da gesucht, was geht da ab, was steckt dahinter?

Max Welch, Sie tanzen Tango, welche Rolle spielt er in Ihrem Leben?

Welch:Zunächst Unterhaltung, ich höre sehr gerne Tango, wenn ich Geschirr spüle, aufräume oder Auto fahre. Das zweite ist, daß der Tango für mich wie für viele andere Lateinamerikaner ein Stück Identität ist, kulturelle Identität. Ich habe Tango immer neben den politischen Protestliedern gehört. Das klingt theoretischer, als es ist: Es sind die Klänge, die ich als Kind gehört habe. Ein Stück Heimat.

Greffrath: Aber genau das, was Sie jetzt beschreiben, ist doch die Tönung des Tangos insgesamt - die Wehmut!?

Welch: Der Tango erfüllt diese Funktion sehr viel besser als etwa Salsa - die Heimat aus der Ferne zu pflegen. Wenn es um Liebesschmerz geht - übrigens nicht nur im Verhältnis von Mann und Frau, sondern auch zwischen Kindern und Eltern - ist sehr oft Trennungsangst dabei.

Greffrath: Wie ist es mit den historischen Zuschreibungen? Der Aufschrei der Entrechteten, die Nostalgie der Emigranten? Lebt das noch in Südamerika? Gibt es den alten Tango überhaupt noch?

Welch: Ja, sicher. In meiner Heimatstadt in Valparaiso gibt es noch die entsprechenden Kneipen, und die Kellner sehen so aus, als ob sie schon 70 Jahre dort gearbeitet hätten. Die Gäste sind oft schräge Leute, die vom Tangotanzen leben, ältere Frauen etwa mit künstlichen Perlen, die singen und von uralten Musikern begleitet werden - das ist Fellini-mäßig. Der Tango ist dort Teil des gewöhnlichen Lebens, ganz normale Leute gehen hin, untere Mittelschicht. Nicht wie hier in Berlin, wo Tango eine Art Lebensstil darstellt, der bewußt ausgesucht wird.

Greffrath: Ganz normale Leute tanzen Tango in Südamerika. Wie sieht das in Berlin aus, Frau Schladenbach?

Schladenbach: Was sind ganz normale Leute, was sind nicht-normale Leute? Ich habe bei meiner Recherche sehr unterschiedliche Leute gefunden. Der Tango hat sich mir dargestellt als eine Art Selbstbedienungsladen. Man kann Tango tanzen, wie man Basketball spielt oder gerne liest - man kann ihn aber auch zu einem umfassenden Lebensstil machen. Es gab Leute, die ich jeden Tag in der Woche beim Tangotanzen wiedergetroffen habe. Die haben sehr gerne getanzt und gerne darüber geredet, daß Tango ihr Leben ist.

Greffrath: Herr Linkens, gibt es in ihrem Herkunftsland Holland auch eine Tangomanie?

Linkens: Sicher, es fängt jetzt überall an. Es ist ansteckend. Es hat sehr viel mit unserer Zeit zu tun, daß Leute wieder Nähe suchen.

Greffrath: Diese dialektische Spannung von strenger Form und großer Nähe - was wird da gesucht? Wie ist das Verhältnis von Angst und Lust?

Linkens: Bei diesem Tanz hat alles mit Erotik zu tun. Kein anderer Tanz hat diese Spannung wie der Tango.

Greffrath: Was hat der Tango mit unserer Zeit zu tun? Ist es eine Gegenbewegung nach der langen Zeit des Auseinandertanzens? Was ist der historische Index, der die Leute wieder zusammentreibt?

Linkens: In der Gesellschaft ist der einzelne in den letzten Jahren zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen. Deswewgen sucht man die Nähe, nicht unbedingt die Abhängigkeit. Beim Tango tanzt man eng, und dann geht man wieder auseinander.

Welch: Die Individualisierung ist es nicht. Es geht um folgendes: Als ich Mitte der siebziger Jahre in die Bundesrepublik kam, traf ich auf eine Kultur, in der jede erotische Äußerung bestraft wurde. Es gab ein Tabu, es gab auch gute Gründe dafür. Es war ein kollektiver Prozeß, den wir alle durchgemacht haben, Männer durften zum Beispiel nicht mehr anzüglich sein. Es war eine sehr strenge Zeit: Männer durften Ende der Siebziger kaum jemanden anfassen. Jetzt ist diese Zeit überwunden, und jetzt geht es darum, neue Wege zu finden, miteinander in Kontakt zu treten, umeinander zu buhlen. Der Tango eignet sich wunderbar dafür, er ist kodifiziert, er ist erotisch, man tanzt ganz eng. So können wir Erotik selbst in der Öffentlichkeit vorführen, und das Schöne ist: Man kann kaum etwas falsch machen. Ich habe noch nie erlebt, daß eine Frau sich beschwert hätte, ein Mann hätte sie zu stark gedrückt oder da angefaßt, wo er nicht durfte. Tango erleichtert uns also wieder die körperliche Annäherung.

Schladenbach: Ich finde, daß der Alltag in Berlin und das moderne Leben sehr oberflächlich und anonym verlaufen. Aber wenn ich mir die Rituale abends im Salon ankucke - da begrüßt man sich, da trinkt man ein Glas Sekt zusammen. Wie eine große Familie. Man muß sich wahrnehmen, und diesen Tanz kann man nur tanzen, wenn man ihn liebt: Es ist eine relativ komplizierte Sache, es ist nicht Disco, wo man sich hinstellt und sich bewegt, sondern man muß die Form einhalten, sonst wird's unheimlich eckig. Diese Intensität im Tango macht die Anziehung aus.

Greffrath: Vom sozialen Gehalt her ist das dasselbe, was auch die Alternativbewegung getrieben hat - kleine Gruppe, Gemeinschaft. Nun werden Sie aber sicher darauf bestehen, daß der Tango etwas anderes ist als die Alternativbewegung mit eleganter Kleidung. Was kommt noch dazu?

Schladenbach: Was Herr Welch über die siebziger Jahre gesagt hat, war ganz richtig. Für mich kam die Wende mit dem Carlos Saura-Film "Carmen". Es tauchte wieder etwas auf, was sehr verheißungsvoll war, nämlich eine Spannung zwischen Mann und Frau, eine Geschlechtlichkeit. Was unheimlich schön ist - wenn beide stark sind. Wenn es nicht darum geht, den anderen zum Mäuschen zu machen oder zum Hengst. Der Tango funktioniert nur, wenn auch die Frauen ganz stark sind und lustvoll tanzen. Dann macht Tango Spaß.

Flamm: Da möchte ich gegenhalten. Für mich hat sich das so dargestellt, daß man Tango auch in der Einsamkeit tanzen kann, die Unterkörper bekommt man immer irgendwie koordiniert. Die Choreographie stimmt dann, aber Nähe stellt sich nicht ein.

Schladenbach: Man erlebt es immer so, wie man selber grad gestimmt ist.

Flamm: Im Tango ist die Erotik ritualisiert. Was bleibt da an Nähe?

Schladenbach: Vieles sieht nach Tanzschule aus, es herrscht Routine, Einsamkeit. Aber es gibt auch anderes. Ich gehe vom Idealfall aus.

Greffrath:Ist der Tango ein Lackmustest, was mit unseren Körpern geographisch, historisch los ist? Max Welch, wenn Sie in Europa oder in Deutschland Menschen Tango tanzen sehen, wie unterscheidet sich die von denen etwa in Valparaiso?

Welch: Die Tänzer hier sind sehr viel anspruchsvoller. Die kleinen Leute in Chile tanzen einen ganz einfachen Tango, die üben auch nicht. Natürlich wird ernsthaft getanzt, aber mit weniger Schnörkel als hier, und übrigens auch weniger steif. Ich habe den Eindruck, daß die Figuren in Berlin sehr viel athletischer vorgeführt werden, mit mehr Körperbeherrschung. Wenn ich jetzt an Valparaiso denke: Die Leute sehen nicht so gestylt aus. Und außerdem trinken Tangotänzer, Frauen und Männer, in der Regel Rotwein - also nicht Sekt. Wir haben hier ein bestimmtes Bild, alles gestylt und mit dem Sektglas. Für mich ist der Tango mit Rotwein verbunden, und zwar noch nicht einmal mit einem Weinglas, sondern mit einem Becher Wein.

Greffrath: Sekt-Tango oder Rotwein-Tango? Frau Flamm, Sie haben geschrieben, in den Berliner Tangosälen gehe es "auf verzweifelte Weise bürgerlich" zu. Und das, was Frau Schladenbach beschrieben hat, daß sich die Leute schick machen und Sekt trinken, kann man das nicht auch soziologisch zu packen kriegen? Nehmen wir die ausgehenden zwanziger Jahre: Siegfried Kracauer hat darüber geschrieben, wie die Leute über Tango auch versucht haben, mit ihren sozialen Problemen fertig zu werden. Kann es sein, daß die Leute, die heute in Berlin Tango tanzen, nicht von ganz unten kommen, wo der Rotwein getrunken wird, und nicht von ganz oben, wo der Sekt schon lange nicht mehr getrunken wird, sondern aus einer undefinierten Mitte?

Flamm: Tango als der bürgerliche Krisentanz der neunziger Jahre? Es hat sich mir teilweise tatsächlich so dargestellt. Man flüchtet sich beim Tango in Konventionen, die längst nicht mehr so in Kraft sind. Man findet eine Regelhaftigkeit. Einer hat mir mal gesagt: "Weißt du, das Schöne am Tango ist, daß man nicht überlegen muß, was man tun soll." Das ist es genau: Es gibt Formen, Rituale, es gibt eine Rollenverteilung - mit der kann man spielen, aber es wird nicht allzu oft gemacht.

Schladenbach: 1989 haben im Flugzeug zwei Argentinier zu mir gesagt: Tango, wie scheußlich, das tanzen die Peronisten. Diese Leute zeigen im Ballsaal, was sie können, aber sie stehen im Alltag nicht auf.

Welch: Die Frage kann man nur beantworten, wenn man beachtet, daß der Tango auch einen Text hat. Das ist hierzulande natürlich ohne Bedeutung. Doch in der spanischsprachigen Welt verstehen die Leute die Texte, auch wenn die meisten Texte im Argot von Buenos Aires gesungen werden. Die Leute singen die Tango-Melodien, selbst die Wäscherinnen tun es. Es gibt viel mehr Lateinamerikaner, die Tangos singen, als die, die Tango tanzen. Tango ist hierzulande vor allem ein Tanz. Würden wir diese Gesprächsrunde in Chile oder Argentinien führen, würden wir viel mehr über die Texte sprechen. Hier aber wird Tango auf Musik reduziert. Die Hälfte des Tangos ist in Berlin leider nicht angekommen.

Greffrath: Herr Linkens, Sie als Tänzer und Choreograph gehören zu einer Berufsgruppe, die bewußt aufs Wort verzichtet und sich mit dem Körper ausdrückt. Brauchen die Europäer nach diesem Jahrhundert eine Körpertherapie, eine Tanztherapie?

Linkens: Therapie - das weiß ich nicht. Für mich ist klar: Tanz vermittelt das Gefühl, lebendig zu sein in einer Welt des leblosen Konsums.

Greffrath: Vergleichen wir die kleine Massenbewegung Tango mit der großen Massenbewegung Techno. Antworten Sie vielleicht auf dieselbe soziale Frage? Techno ist von Staats wegen gefördert und als politisch anerkannt. Wäre das der Tango auch - was wäre seine politische Message?

Linkens: Bei beiden sehe ich dieselbe Lust, sich mit dem anderen zu bewegen.

Welch: Was ich beim Techno sehe, ist ein sehr verklemmtes Verhältnis zur Körperlichkeit, zur Erotik. Man versucht, die Erotik zurückzudrängen durch etwas Schräges, und sei es eine verrückte Brille. Beim Tango ist die Erotik ungebrochen.

Linkens: Brechungen und Ritualisierungen gibt es auch beim Tango.

Greffrath: Warum sollte die schräge Brille eine Brechung der Erotik sein, das lächerliche Paillettenkleid aber nicht?

Flamm: Der Unterschied ist, daß der Tango etwas anderes verspricht als Techno. Beim Techno wird der Körper abstrakt. Der Tango verspricht diese Geschichte von Mann und Frau - ob er das Versprechen hält, ist nicht sicher. Aber im Tango wird mehr gesucht als im Techno.

Die Diskussion fand am 26. Oktober 1997 im Berliner Ensemble statt und wurde von Radio Kultur live übertragen. Für den Abdruck wurde sie redaktionell gekürzt und leicht bearbeitet.