Welches Fähnlein führte der junge Rühe?

Mehrfach ist Bundesverteidigungsminister Volker Rühe seit dem Verbot der rechtsradikalen Wiking Jugend im November 1994 sowohl von Mitgliedern der NPD als auch aus Kreisen der Wiking Jugend selbst als ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Vereinigung bezeichnet worden. In der Ausgabe 1/95 des NPD-Parteiorgans Deutsche Stimme erklärte der damalige NPD-Vorsitzende Günter Deckert unter der Überschrift "Wiking-Jugend: Volker Rühes Ex-Kameraden verboten": "Die bündische Jugendgruppe WJ, der auch einmal Bundesverteidigungsminister Volker Rühe angehörte", sei bereits 1952 gegründet worden. Und Wolfgang Frenz, Redaktionsleiter des NPD-Landesspiegel Nordrhein-Westfalen, behauptete im Juli 1996 in dieser NPD-Publikation, Rühe sei in den fünfziger und sechziger Jahren Fähnleinführer der verbotenen Wiking Jugend gewesen.

Die Rechtsextremismus-Expertin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Annelie Buntenbach, hat nun die Bundesregierung in einer parlamentarischen Anfrage aufgefordert, zu den Gerüchten Stellung zu nehmen, Bundesverteidigungsminister Volker Rühe sei Mitglied der mittlerweile verbotenen Neonazi-Organisation gewesen. "Diese Behauptung ist in der rechtsextremen Szene weit verbreitet - sie ist keinesfalls anonym gemacht worden, sondern hat Namen und Adressen", so Buntenbach. "Volker Rühe muß dem klar und deutlich entgegentreten, auch mit strafrechtlichen Mitteln. Wenn er keine eindeutige Klarstellung erzwingt, führt dies offensichtlich zu Fehlinterpretationen über die rechte Szene hinaus." Das Bundesverteidigungsministerium dementiert, daß der 1942 geborene Rühe Mitglied der WJ gewesen sei. Man sei jedoch gegen entsprechende Berichte nicht vorgegangen, da die entsprechenden Quellen nicht bekannt seien. Annelie Buntenbach hält diese Behauptung aus dem Ministerium allerdings für "unvorstellbar". "Wenn Rühe diese Informationen tatsächlich nicht vorliegen sollten, dann haben der Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst wieder einmal versagt", meint Buntenbach.

Die Wiking Jugend war 1952 als Nachfolgeorganisation der Hitler-Jugend gegründet worden. Ihre ideologische und organisatorische Ausrichtung in den nächsten vierzig Jahren kam direkt aus der NSDAP. Nach Angaben der Organisation haben rund 15 000 Kinder und Jugendliche an deren Sommerlagern und wehrsportähnlichen Ausflügen teilgenommen. Zum Programm gehörten dabei neben Fahnenappellen, Aufmärschen, Sonnwendfeiern und sogenannten Kulturveranstaltungen mit völkischen Barden auch ideologische Schulungen und eigene Veranstaltungen für Mädchen. Die WJ galt als Kaderschmiede für andere Neonazi-Organisationen. Zu ihren bekanntesten Mitgliedern gehörte der Chef der terroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann. Der letzte "Bundesführer" bis zum Verbot im November 1994, Wolfram Nahrath, hatte das Amt von seinem Vater Wolfgang geerbt und lebt nun als aufstrebender Rechtsanwalt der Neonazi-Szene in Berlin.

Für eine Antwort auf die Anfrage von Annelie Buntenbach hat die Bundesregierung eine Woche Zeit. Es bleibt abzuwarten, ob es sich um eine gezielte Falschinformation der WJ handelt, die damit gegen ihr Verbot vorgehen will, oder ob sich in Wolfgang Nahraths Archiven tatsächlich Belege für Rühes WJ-Mitgliedschaft finden.