Untote Jungs

Marlboro-Romantik für alte Hippies - Jürgen Kruses dritter Versuch, Sam Shepards "Unsichtbare Hand" zu inszenieren

Mit "Es war einmal" fangen gewöhnlich die Märchen an, vielleicht auch mit "Es war einmal in Amerika". Na schön. Manchmal aber fangen sie ganz anders an, und dann wird es meist weniger schön, dafür krampfig. Zum Beispiel, wenn gleich zu Beginn Neil Young mit seinem "My My, Hey Hey (Out of the Blue)" nervt. Das soll irgendwie besonders hip klingen und ist doch nur Fastfood-Nostalgie: High Noon der späten Hippies. Das aufgedonnerte Märchen heißt "Die unsichtbare Hand" ("The Unseen Hand", 1967) und stammt von Sam Shepard, der auch das Drehbuch zu "Paris Texas" auf dem Gewissen hat. Angerichtet hat es Jürgen Kruse, einst Assistent von Peter Stein in Berlin, jetzt Sparringpartner von Leander Haußmann in Bochum.

Es spielt im Wilden Westen, dem Land, wo die Legenden blühen. Die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz ist der Ort, an dem sie dann ihren letzten Frühling erleben. Und so inszeniert Kruse den "SpaceWestern" als Reverenz an die gute alte Zeit, in der Männer noch gespornt waren, Popstars in der Badewanne ertranken, überhaupt die Umstände ganz anders, mehr pulverdampfend daherkamen. Wo die wilden Kerle wohnen: Come to where the flavor is. Kruse ist darin erfahren, er hat "The Unseen Hand" bereits 1987 an der Schaubühne Berlin und 1992 in Freiburg inszeniert. Jetzt tut er, was er nicht lassen kann, und streicht prophylaktisch die Pause, damit ihm kein Besucher so einfach entkommt. Zu Beginn wird im Zuschauerraum Licht gespart, was für innenräumliche Lagerfeuer-Romantik sorgen soll und Scharen von Menschen in die Knie zwingt, um ihre Platznummer zu entziffern. Raucher sind im Vorteil, weil sie sich mittels Feuerzeug behelfen können. Trotzdem wird die Aufführung nicht von der Tabakindustrie gesponsert, auch wenn sie außerdem noch mit dichten Rauchschwaden beginnt. Auf der Bühne wird ebenso mit Licht geknausert, was Kruses theatralische Sendung vorsorglich im Halbschatten beläßt.

Zu erkennen ist auf einer nach vorne gekippten Ebene zwischen leeren Getränkedosen und anderem dekorativ ausgebreiteten Müll ein schrottreifes Cabriolet, beifällig "51er Chevy" genannt. Drinnen liegt ein Totenkopf, draußen ist "Kill Azusa" aufgepinselt. Dahinter steht die Ruine eines abgewickelten Drive-In, von dem bloß drei Buchstaben sowie ein Pianist in einem Skelettkostüm (Sir Henry) übriggeblieben sind. Ein Stilleben am Highway 66, Kitsch as Kitsch can: Und der Vollmond lacht darüber (Bühne: Stefan Mayer, Kostüme: Caritas de Wit).

Bald schält sich der Schauspieler Herbert Fritsch aus der melodramatischen Einöde und spielt den hundertzwanzigjährigen Cowboy-Zombie Blue Morphan. Er hat Haare bis zum Gürtel und kichert vergeistigt, wenn er nicht geistlos über "Aidsburger" oder "BSE-Donuts" feixt und allerlei gehampeltes Unwesen treibt, sogar vor dem Zertrümmern einer Gitarre auf der Motorhaube nicht zurückschreckt. In Jürgen Kruses ewiger Theaternacht wird nur szenische Grobkost sichtbar. Macht nüscht. Wichtig ist das Feeling. Und das stimmt total: "Hey Hey, My My (Into the Black)". Fünf Darsteller zelebrieren einen Abend, an dem so ausführlich wie gemütvoll über vieles auf und außerhalb der Welt gesmalltalkt wird, während ansonsten reichlich wenig passiert. Lauter leere Worte, übersetzt in lauter leere Bilder: Eine Ikonographie des weiten Westens, von der nur die Rahmen übrig geblieben sind. Somnambul spielen sich die Schauspieler durch isolierte Geschichtsfragmente, die belanglos aufeinander folgen, schwer gestimmt auf Sehnsucht, Melancholie, bißchen Weltverdruß hier, etwas Anarchie dort, viel Pubertäres überall. "Erzähl mal!" sagt Blue später zu seinem Kumpel aus dem Weltraum. Gehorsam macht Kruse aus der verschlafenen Müllkippen-Saga ein ebenso bräsiges Plaudertaschen-Theater mit geborgten Rock'n'Roll-Posen und gestemmten Test-the-West-Devotionalien. Shepards Mythen-Mixtur versammelt in dem fiktiven Ort "Azusa" einfach "everything from A to Z in the USA", und das geht so: Blue, der seit 52 Jahren das Autowrack bewohnt, erhält Besuch von "Spacefreak Willie", Exilantin einer fernen Galaxie. Sie will ihr Volk vom Terror der unsichtbaren Hand befreien, die bis in die Gedanken der Einwohner wühlt. Weshalb auf Willies Glatze eine deutlich sichtbare schwarze Hand prangt, die ihre abstruse Legende bezeugen soll. Das außerirdische Wesen, gespielt von der roboterhaft ausgelassenen Silvia Rieger, stürzt aus einem hellblauen Trabant in die Müllhalde und quäkt erstmal eine Weile "Egalegalegal".

So beweist Kruse, wie ost-logisch dieser Wildwest-Trash ist: "Man fand das Stück immer für'n Arsch. Dann kam der Mauerfall, und man erlebt, wie plötzlich Sätze, die man immer für schwachsinnig gehalten hat, wichtig werden." Flugs geht der Trabi in die Luft. Und Willie holt durch extraterrestrische Fähigkeiten die restlichen, bereits verstorbenen Blues Brothers namens Cisco (Peter René Lüdicke) und Sycamore (Gerd Preusche) aus dem Grab zurück und verjüngt Chevy-Blue um hundert Jahre. Prompt könnte die legendäre Morphan-Bande wieder zum fröhlichen Jagen ausziehen. Das Tanzbein wird geschwungen, und das Lasso dazu. Doch soviel Happy-End verträgt ein richtiger Western nicht. "In Azusa geht die Sonne wohl nie auf", sagt Sycamore. Und: "Es ist hell und wir stecken hier in einem fremden Jahrhundert drin." Die Gegenwart marschiert in Gestalt des smarten All American Boy "The Kid" (Matthias Matschke) auf, ein MTV-gestylter männlicher Cheerleader, der einen großen Kunststoff-Penis umgebunden hat. Er ist vor seiner Mannschaft geflohen, die ihn mit einem Tampon vergewaltigt hat. Jetzt heult er, bebt, flucht, und schafft es den ganzen Abend nicht, seine Hose wieder hochzuziehen. Als er sich in Gegenwart der toughen Highway-Nomaden erholt hat, doziert er flüssig über Guerilla-Strategien, schließlich arbeitet er nebenbei für den Staatsschutz: "Hit and run!"

Shepard läßt nichts aus und baut daraus ein mäßig seetaugliches US-Traumschiff. Kruse läßt sich wohlig darin nieder und hat gleich einen Traum, naturgemäß einen amerikanischen. Aber wie das so ist mit Träumen: Plötzlich sind sie Schnee vom vergangenen Jahr. Und das Morgengrauen löscht die untoten Kuhjungens ebenso aus wie die ranzige Phantasie, die sie hervorgebracht hat. Vergebens werden die alten Haudegen von Steppenwolf bis Bob Dylan aufgelegt, Pferdestärken bemüht, Erinnerungen zwangsernährt. Die ohnedies überstrapazierte Devise "Rock'n'Roll can never die" allerdings hat noch nie dermaßen leblos geklungen. Die Schauspieler kämpfen sich tapfer durch die Instant-Gemengelage, die als postmoderne Popchronik erscheinen möchte und doch nur zum Bravo-Starschnitt reicht. Es funzelt aus dem Handschuhfach oder aus dem Autoradio, es regnet Eis und Tischtennisbälle, Motoren röhren regelmäßig vom nahen Highway. Und trotzdem gibt es nach mehr als zweieinhalb Stunden in diesem Westen nichts Neues. "Laß es sein", rät der alte Sycamore am Ende der stockfleckigen Veranstaltung, "laß es sein".

Sam Shepard: Die unsichtbare Hand. R: Jürgen Kruse. B: Stefan Mayer. K: Caritas de Wit. D: Herbert Fritsch, Peter René Lüdicke, Gerd Preusche, Silvia Rieger, Matthias Matschke Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Nächste Vorstellungen: 16., 18., 25., 28. Januar 1998