»Ein bißchen zu spät reagiert«

In Frankreich spitzt sich der Konflikt zwischen der Arbeitslosenbewegung und der Regierung weiter zu

Nach fast einem Monat hat sich in der vergangenen Woche der soziale Konflikt in Frankreich zugespitzt: Die besetzten Arbeitslosenkassen wurden am 10. Januar auf Anordnung der Regierung Jospin landesweit von Polizeikräften geräumt.

Noch am ersten Januar-Wochenende hatte Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry die Wogen zu glätten versucht. Sie ließ verkünden, der Staat stelle "500 Millionen Francs" für die Arbeitslosen zur Verfügung, um so Umschulungsmaßnahmen zu finanzieren. Doch die Freude währte nicht lange: Le Monde stellte klar, daß es dabei allenfalls um die Rücknahme eines Fünftels der von der Juppé-Regierung 1996 vorgenommenen Kürzung gehe.

In ihrer nächsten Ausgabe konkretisierte die Pariser Abendzeitung, daß es sich bei den 500 Millionen lediglich um Altschulden handelte, mit denen der Staat noch aus dem Vorjahr gegenüber der Arbeitslosenkasse UNEDIC in der Kreide stehe.

Die protestierenden Arbeitslosen fühlten sich zu Recht von der "Ministerin für Beschäftigung und Solidarität" - so ihr offizieller Titel - verschaukelt. Zumal diese auf einer Pressekonferenz forsch verkündet hatte: "Nichts kann heute rechtfertigen, daß diese Besetzungen in der Illegalität fortdauern." Der Premierminister mußte sich persönlich einschalten, nachdem grüne und kommunistische Kabinettsmitglieder sich abweichend von Frau Aubrys Linie geäußert hatten. Die grüne Umweltministerin hatte am 4.Januar im Fernsehen ihre "volle Unterstützung" für die Proteste geäußert und Aubrys Zugeständnisse als unzureichend bezeichnet.

Die Wut der aktiv gewordenen Erwerbslosen wurde zusätzlich durch ein von der Tageszeitung Libération publiziertes Interview mit der Präsidentin der Arbeitslosenkasse UNEDIC, Nicole Notat, angefacht. Die Chefin der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT, die seit 1992 auch die Verwaltung der Arbeitslosenkasse leitet, goß mit ihrer Äußerung "Ich habe das Gefühl, daß eine Manipulation des Elends hinter all dem steckt" Öl ins Feuer.

Notat zeigte zudem unfreiwillig die Konsequenzen der Rentabilitätspolitik ihrer Arbeitslosenkasse auf. Zunächst lobte sie ihre Verwaltung dafür, daß sie 1996 13 Milliarden Francs Überschuß erwirtschaften konnte. Nach Notats Konzeption sollten diese bei den Hilfeleistungen für Unterstützungs-Empfänger eingesparten Gelder dafür eingesetzt werden, einen Teil der Arbeitslosen auf den Arbeitsmarkt zurückzuführen.

So sollte der "Lohndruck" auf die "Arbeitsplatzbesitzer", also ihre Klientel, verringert werden. Doch, so Notat im Interview: "Die Unternehmerschaft (die an der paritätischen Verwaltung der Kasse teilhat; B.S.) wollte von nichts anderem reden, als davon, diesen Überschuß an die Beitragszahler zurückzuerstatten, in Form einer Senkung der Beiträge."

Waren Anfang Januar nur zwischen zwölf und 14 Arbeitslosenkassen landesweit besetzt, erhöhte sich die Anzahl der Besetzungen in der zweiten Januarwoche sprunghaft auf über 30. Die Regierung zeigte plötzlich Verständnis. Ministerin Aubry erklärte am Mittwoch vergangener Woche im Parlament: "Auf der Linken haben wir eine tiefe Sympathie für die Bewegung der Arbeitslosen". Sie begrüßte "den kollektiven Aspekt des Kampfs der Arbeitslosen, die nicht mehr vereinzelt und isoliert sind". Die Regierung habe "vielleicht ein kleines bißchen zu spät reagiert".

Am selben Tag gingen erstmals mehrere tausend Unterstützer der Arbeitslosen in mehreren Städten auf die Straße. Und der Aufsichtsrat der UNEDIC beschloß, um "die Not der Arbeitslosen zu lindern", eine Sonderausgabe von zwölf Millionen Francs (etwa drei Millionen Mark) - was umgerechnet vier Franc für jeden offiziell registrierten Arbeitslosen ergibt.

Nur einen Tag später empfing Jospin in seinem Amtssitz Gewerkschaften und Unternehmerverbände und im Anschluß daran die Arbeitslosen-Selbstorganisationen, die Basisbewegung AC! und die CGT-Arbeitslosenkomitees. Damit hatte er ein kleines politisches Signal im Hinblick auf die Anerkennung dieser Interessenvertretungen gesetzt. Das genügte, um die Chefs der beiden großen "sozialpartnerschaftlichen" Gewerkschaftsbünde CFDT und FO in Rage zu bringen. Diese hatten seit geraumer Zeit versucht, Druck auf die Regierung auszuüben, um die Anerkennung der unerwünschten Konkurrenz - welche ihre Stellung als legitimierte Makler für den Preis der Ware Arbeitskraft in Frage zu stellen drohen - zu verhindern.

Gleichzeitig jedoch forderte Jospin von den Arbeitslosen: "Wählen Sie Formen, die nicht zu einer Konfrontation zwischen uns führen." Anders gesagt: Die Besetzungen müssen aufhören. Dafür bot er drei Gegenleistungen: Eine Art Frührente für über 55jährige Arbeitslose, die 40 oder mehr Jahre lang Beiträge bezahlt haben - eine Maßnahme, die bereits seit einem Jahr gefordert worden war. Zweitens die Erhöhung der ASS, der sozialhilfeähnlichen Arbeitslosenhilfe um ein Prozent. Die ASS, die sich derzeit auf rund 650 Mark monatlich beläuft, sollte eigentlich um zwei Prozent rückwirkend zum 1. Juli 1997, sowie um ein Prozent zum 1. Juli 1998 steigen. Drittens bot Jospin 100 Millionen Francs für die "Krisenzellen auf Departementsebene", welche Frau Aubry nach den Besetzungen im Dezember eingerichtet hatte, um Erwerbslosen in Notlagen Zuschüsse zahlen zu können.

Alle drei Maßnahmen zusammen werden auf eine Miliarde Francs veranschlagt, die durch eine Milliarde zusätzlicher Einsparungen im Staatshaushalt ausgeglichen werden soll.

Die Arbeitslosenbewegung bewertete dieses Zugeständnis als unzureichend, zumal kein Wort über ihre zentralen Forderungen (Anhebung der Mindestsätze von ASS und Sozialhilfe um 450 DM und die Ausdehnung der Sozialhilfe auf 18- bis 25jährige) verloren wurde. Die Besetzungen gingen daher weiter, bis am vergangenen Samstag die meisten besetzten Gebäude durch Polizeieinsätze geräumt wurden. Im Radio rechtfertigte Jospin die Räumungen: "Unser Land braucht Solidarität, soziale Gerechtigkeit, den Erfolg seiner Wirtschaftspolitik gegen die Arbeitslosigkeit, aber auch eine Autorität." Er erhielt dabei Unterstützung durch den KP-Transportminister Jean-Claude Gayssot.

Die Selbstorganisationen der Erwerbslosen sind indes weit davon entfernt, "Ruhe zu geben". Sie kündigten für Dienstag den nächsten "Aktionstag" und eine landesweite Demonstration an. Im ostfranzösischen Metz besetzten am Wochenende Arbeitslose, nachdem die Polizei die Arbeitslosenkasse geräumt hatte, die Industrie- und Handelskammer. Eine polizeiliche Räumung stand zu Redaktionsschluß diese Ausgabe bevor.