Wir Römer

Wir sind spät dran. Aber der Tod läßt sich seine Zeit. Kommt, wann's ihm am besten paßt. Anyway - der große Gleichmacher macht's möglich: Wie uns die taz vom 13./14. Dezember 1997, acht Tage nach Bahros Heimgang, mitteilte, war "das Krankenzimmer Rudolf Bahros (...) fast bis zu seinem Tode für Freunde, aber auch für einige Journalisten geöffnet. Ende August, als er spürte, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, gab er noch mal ein Interview. Bahro hat diesen Text selbst autorisiert." Die taz druckte ihn.

Diesen Text, den Bahro nicht nur autorisiert, sondern sogar selbst autorisiert hat, wollen wir heute noch mal flott vorm inneren Seelenauge vorbeipromenieren lassen.

Politik, bilanzierte Bahro kurz vor Schluß, sei den Aufgaben und Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen: "Es geht doch immer darum, einen Entwurf fortzusetzen, dessen Impuls sich ebenso erschöpft hat wie der sowjetische Imperialismus vor dem Ende der DDR." Erschöpft sank der Sowjetmerkantilismus darnieder und bettete sein Chefideologenhaupt aufs Kunstsamtkissen des Altersstarsinns. Nicht Rudolf Bahro - Zorn, Unerbittlichkeit, Furor, phantastische Einsichten, geschliffene Formulierungen, prägnante Urteile, messerscharfe Erkenntnisse, fabelhafte Phantasien, große Utopien, tadelloses Tachelesgerede, titanisches Tadeln: Kapitalisten, Ausbeuter, Produzenten aller Art pressen Mother Earth das letzte ab, obschon die längst ächzend ihre wahrscheinlich vorletzte Runde dreht: "Das strukturelle Gefängnis, in dem sie sitzen, kitzelt alle Energien aus ihnen heraus." Warum? Waa-rummm? Bildet sich denn wenigstens Widerstand gegen Ausverkauf und globalen Ruin, den mutwillig herbeigeführten Niedergang des Lebens?

"Am Ende des Römischen Reichs", trug Bahro in bester G.-Seibt-Diktion ("Das späte Rom") vor, "gab es eine Situation, die ich nur so beschreiben kann, daß die menschliche Substanz in ihrem Kern gefragt war. Die heutige Situation hat durchaus Parallelen dazu. Die Leere, die da gegenwärtig vom Fernsehschirm strahlt, ist doch von hohen Graden", die Strenge des Gedankens von indes weit höheren Gnaden: "Es ist ein Potential unbesetzter Territorien des Geistes und der Seele. Und es mag der Augenblick kommen, in dem größere Teile der Menschen, die noch denken und fühlen, etwas zusammenschießen lassen." Etwas zu Klump ballern? Ist das nicht ein wenig zu spekulativ, spektakulär, um nicht zu fragen: surreal? Ist's der lang ersehnte Aufruf zur imperialen Inbesitznahme der weitgeschwungenen Landschaften der Psyche? Sind wir alle späte Römer? Und wären besser frühe? Und wann geht's los?

"Das 'Warten' ist für mich das eigentlich Spannende. Die Funktion des Wartens ist ja selbst schon ein Entwurf, wie die Menschheit leben könnte." Also in ewig erstarrter Erwartung des schlechten anderen? "Wir haben natürlich auch keine Garantie, daß diese Art inspirierten Wartens" und spirituellen Sehnens "uns retten kann." Scheiße.

Doch Bahro, so weist er den Weg ins wartehallenartig ungemütlich Ungewisse, erklärt festen Glaubens und mit fester Stimme: "Ich bin allerdings ziemlich zutraulich, daß sich der menschliche Geist etwas einfallen läßt." Was zweifelsfrei meint: Er, Bahro, habe Zutrauen in die zwar unbegründete, aber hoffnungsspendende Gewißheit, es gehe irgendwann irgendwie irgendwo doch noch irgendwas. "Die reichen Länder sind ja erst einmal vorerwähnt erschrocken in den Siebzigern und Achtzigern", ölerschrocken fuhr ihnen die erste Panikattacke in die wegen mangelnder Heizmaterialien über Gebühr frostigen Glieder.

Mal gucken, was kommt. Mal schaun, wie's weitergeht, ob 1998 die Wende bringt oder erst das Jahr 2003. Zuversichtlich dürfen wir, allen bartlosen Propheten aus dem Knusperhaus Bahro zum Trotz, bleiben: unerschrocken wie Bahros Bruder im verwirrten Geiste, der 127jährige Wilflinger Ernst Jünger, dem der vorerwähnt erschrocken Gebenedeite, als das Ende nahte, geheimnisvoll eine letzte Botschaft zusandte: "Wir halten immer noch Ausschau nach dem Spartakusaufstand, der sich endlich irgendwo formieren soll. Wenn jetzt eine ganze Formation zu Ende geht, dann muß die Erneuerung sehr weit ausholen bis hin zu den geistigen Grundlagen. Es geht um die Denkrichtung."

Wer zu spät kommt, den bestraft bloß die Zeitung.