Das Militär ist der Feind der Gesellschaft

Die Klasseninteressen der Staatsbürokratie sind Ursache der Gewalt in Algerien.
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Die kurze Visite der europäischen Troika in Algier wurde von dem Karikaturisten der Zeitung Le Monde, Pancho, treffend abgebildet: Zwei Passanten, eine Frau und ein Mann, gehen völlig gleichgültig an einem Wanddenkmal vorbei, das die Inschrift trägt: "Hier hat man am 20. Januar 1998 die europäische Troika vorbeigehen sehen." In der Tat erwartet die Bevölkerung keine Wunder von den europäischen Mächten. Diese fühlen sich vielmehr nur der bürgerlichen Moral verpflichtet. Ihr Appell an die algerischen Machthaber, die Morde zu klären, bleibt wegen ihrer politischen Inhaltslosigkeit eine Predigt in der Wüste.

Als ein Großteil der Bevölkerung im November 1995 General Zéroual zum Präsidenten der Republik wählte, artikulierte sie die Hoffnung auf Frieden. Der neue Präsident sah hingegen seine Doktrin der éradication, der radikalen Ausrottungspolitik, gesellschaftspolitisch bestätigt, verstärkte den staatlichen Repressionsapparat und trieb die Militarisierung der Gesellschaft voran. Die LADDH, die unabhängige Menschenrechtsorganisation in Algerien, und amnesty international beklagen, daß Tausende von Menschen seit Anfang des Konfliktes verschwunden sind oder in den Knästen des Regimes ohne fairen Prozeß dahinvegetieren, daß auf einfachen Verdacht hin gefoltert und gemordet wird. Der Druck der Zensur auf die freien Medien und auf die Menschenrechtsorganisationen ist erheblich gestiegen. Jegliche soziale Widerstandsbewegung wie z.B. die Streikbewegung der 18 000 Hochschullehrer, die vom Oktober 1996 bis März 1997 ihre Arbeit niederlegten und gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen protestierten, wird als verfassungsfeindlich stigmatisiert. Die Wahlen seit 1995 waren von offenkundigen Fälschungen geprägt, die Bevölkerung hat kaum demokratische Rechte, geschweige denn Chancen, etwas zu beeinflussen.

Im Gegenteil, die enorme Machtkonzentration auf Staatschef Zéroual und seinen Hof bedeutet einen massiven Rückschritt. Durch die Konstituierung einer zweiten Kammer, deren Mitglieder von Zéroual selbst nominiert werden, erhalten die Generäle die Möglichkeit, die Rolle der parlamentarischen Volksvertreter fundamental zu beschneiden. Die neue Verfassung zementiert außerdem das Verbot von Parteien, die eine religiöse oder arabische Programmatik verbreiten oder sich für das Berbertum einsetzen.

Vor und mit der Konvertierung des politischen Islam in eine mit Gewalt operierende Rebellion wurden andere Schichten der Bevölkerung ins Zentrum der Konfrontation hineinkatapultiert: Das junge Subproletariat der Städte und Vorstädte, das eine drastische Verelendung erlebt hat, sieht in der islamischen Semantik die perfekte Deutung seiner Ängste, Sorgen und Hoffnungen. Daß aber mit keiner Silbe des im Jahre 1989 verfaßten Programms der FIS die verwahrloste Jugend erwähnt wird, ist keine Überraschung. Die Partei kann niemals die grundsätzlichen Probleme von Unterbeschäftigung, Obdachlosigkeit, allgemeiner Perspektivlosigkeit, Gesundheitversorgung und Bildung lösen.

Die verarmte Jugend wird in Algerien als Kanonenfutter von machtbesessenen Emiren mißbraucht. Die Dynamik des Krieges hat sie aber eingeholt, viele leben inzwischen von Plünderung und Mord, und dies in einem Wettlauf mit dem Tod.

Die zahlreichen Banden, die in Rais, Bentalha und Larbaa Massenmorde verübt haben, besitzen inzwischen weder eine Strategie noch politische Prinzipien. Die Praxis des extremen Terrors richtet sich gegen alle, die nicht aktiv mitmachen, und vor allem gegen die Ärmsten der Armen innerhalb der ungeschützten Landbevölkerung.

Die offenkundige Passivität und die defensive Haltung der Führung der algerischen Armee ist allerdings nicht das Resultat einer militärtechnischen Schwäche, sondern ihrer gesellschaftlicher Klassenlage geschuldet. Die Eliten der Armee, die Staatsbürokratie, die ökonomische Nomenklatura, schützen in erster Linie ihre enormen Privilegien und die materielle Basis ihrer gesellschaftlichen Reproduktion.

Die Verdrängung der ungeheueren Massenvernichtung, die Informations- und Zensurpraxis, die Vertuschung und Verniedlichung des herrschenden Terrors beruhen auf der Borniertheit ihrer Klassenoptik. Diese gesellschaftliche Haltung erlaubt keine Lösung der Grundproblematik der algerischen Gesellschaft: Die Perpetuierung der Gewalt hat in dieser Konstellation ihre materielle Voraussetzung.

Die Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung, die Frauenassoziationen, die Menschenrechtsorganisationen, ein Teil der fortschrittlichen Medien und ein Großteil der Jugend sehen weder im Staat noch in den Losungen der islamischen Propaganda, nicht einmal in den kleinen zersplitterten "demokratischen" Parteien eine reale gesellschaftliche Alternative, die den Frieden ermöglichen könnte. Bis jetzt haben sie eine defensive Haltung gegenüber der Erosion ihrer Lebensgrundlage durch den Terror der Waffen und durch die Anarchie der algerischen Ökonomie eingenommen. Wie lange werden die mehr als eine Million organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen, Beschäftigten, die militanten Frauen- und Jugendorganisationen noch zusehen, wie ihr Land ruiniert wird? Es ist erlaubt, im Land der unvollendeten Revolution aus diesem Potential ein bißchen Hoffnung zu schöpfen.

Der Autor schreibt in der trotzkistischen Zeitschrift Inprekorr