hat Besetzer am Pariser Boulevard Barbès besucht

Die kleine Kommune

"La petite Commune de Paris" haben sie ihr Kollektiv getauft, die rund 50 Personen, die Ende der vorletzten Woche die Filiale der staatlichen Stromgesellschaft Electricité de France (EDF) am Boulevard Barbès im 18. Pariser Bezirk besetzt haben. Seitdem am 10. Januar die meisten Arbeitslosenkassen polizeilich geräumt wurden, haben sich die Aktionsziele diversifiziert.

Noch am Tag der Räumungen kam es zu neuen Besetzungen: Industrie- und Handelskammern, Unternehmerverbände, Rathäuser und Büros der regierenden Sozialisten erhielten überraschenden Besuch von Arbeitslosen. In Paris wurde die Elitehochschule ƒcole Normale Supérieure eingenommen, wo sich der Soziologe Pierre Bourdieu - als Zeichen der Solidarität - sehen ließ. Im Pariser Norden war es eine knappe Woche später ein Gebäude der EDF - und das ist kein Zufall. Der Strommonopolist EDF hatte, mitten im Winter, bei Zahlungsunfähigen Strom oder Gas abgeschaltet.

Montag, der 19. Januar. Vierter Tag der Besetzung. Die Besetzer beharren auf ihren Forderungen: Es dürfen keine Stromabschaltungen wegen unbezahlter Rechnungen stattfinden. Alle dienstlichen Sanktionen gegen EDF-Beschäftigte, die solche Abschaltungen verweigerten, müssen aufgehoben werden; ausstehende Schulden von Arbeitslosen sollen storniert werden. Draußen an der Tür haben die Aktivisten ein großes Plakat angebracht: "Die Bedienung von Kunden ist nicht verboten." Jene EDF-Beschäftigten, die weiterarbeiten wollen, läßt man in Ruhe.

Am Montagmorgen hatte die Direktion versucht, die Besetzer gewaltsam vor die Tür zu setzen, doch in den Räumlichkeiten anwesende Kunden verhinderten zusammen mit den Aktiven den Rauswurf. Ein alter Mann aus der Nachbarschaft, dem die EDF wegen seiner finanziellen Schwierigkeiten den Strom sperren will, gesellt sich tagsüber zu den Besetzern.

Am Abend tagt die Vollversammlung der Besetzer. An der Tür findet keinerlei Einlaßkontrolle statt. Aktivisten aus politischen Gruppen und Bürgerinitiativen des 18. Arrondissements, die tagsüber arbeiten, kommen abends zu den Besetzern, spenden Geld oder bieten Hilfe an. Man bereitet gemeinsam die Demonstration für den folgenden Tag vor und ist sich ziemlich einig, daß die Gesellschaft sich umfassend ändern müsse.

Donnerstag, 22. Januar. Siebenter Tag der Besetzung. Die Stimmung ist gedämpfter als an den vorangegangenen Tagen, bleibt aber kämpferisch. Die Besetzer haben wenig geschlafen und sind erschöpft. Es wird über ein Flugblatt debattiert, das die Bevölkerung zum Zahlungsboykott der EDF- Rechnungen aufrufen soll, um den Forderungen der Arbeitslosen Nachdruck zu verleihen.

Eine junge Frau, Leila (Namen sind von der Redaktion geändert), hat einen Entwurf geschrieben. Eine Kontroverse entzündet sich an einige Formulierungen. Khaled, der nach eigenen Angaben seit 1968 in dem Bezirk aktiv ist und zahlreiche Bewegungen und Initiativen mitgemacht hat, spricht sich dafür aus, Begriffe wie "Terroristen", "Gangster" und "Mafia" aus dem Flugblatt zu streichen, da man durch unnötige Schärfe verhindere, daß der zu vermittelnde Inhalt von den Adressaten ernstgenommen werde. Vincent, der im Dezember zu den Aktionen gestoßen ist, sieht dagegen die beanstandeten Worte als gerechtfertigt an: "Die EDF-Technokraten sind Terroristen, weil sie durch ihre Abschaltungen im Winter die Leute terrorisieren, damit sie bezahlen. Sie bilden eine Mafia, weil sie die Atomenergie in diesem Land ohne jede demokratische Debatte durchgesetzt haben. Und sie sind Gangster, die sich an uns bereichert haben." Das Argument von Micheline gibt schließlich den Ausschlag: "Bei Terroristen denkt man heute an das, was in Algerien passiert, und mit diesem Horror haben die Dinge hier nun wirklich nichts gemeinsam." Man einigt sich schließlich darauf, den Entwurf als Diskussionsbasis zu nehmen, aber das Vokabular zu entschärfen.

Es bleibt der Eindruck zurück, daß erste kleine Risse auftreten zwischen jenen, die aus unmittelbarer Not heraus und aus dem Bauch handeln, auf der einen und den Aktivisten mit politischer und organisatorischer Erfahrung auf der anderen Seite. Vorwürfe gegen die Selbstorganisationen der Arbeitslosen werden laut: Die Besetzung sei schlecht organisiert, die Klos immer verstopft, und niemand kümmere sich um diese und jene Notwendigkeiten.

Für Empörung sorgt schließlich der Vorwurf gegen eine Aktivistin, sie sei "genauso übel wie die Sozialarbeiterinnen", weil sie drei Jugendliche fortgeschickt habe, die am Essen der Besetzer teilhaben wollten. Khaled versucht die Spannungen zu entschärfen: "Ich habe in den letzten 25 Jahren noch nie eine Bewegung erlebt, die so offen war und in der so demokratisch entschieden wurde, ohne daß die Partei und Gewerkschaftsapparate alles unter Kontrolle gehabt hätten. Bis ganz oben hin sind alle Entscheidungswege offen, und jeder von euch kann an den Delegationen teilnehmen, die mit Staat und EDF-Vertretern verhandeln."

Andere stimmen ihm zu, schließlich seien bei dieser Besetzung die KP und die CGT, von denen man eine "Steuerung" befürchten könne, gar nicht dabei. Micheline fühlt sich persönlich angegriffen, sie sei in den genannten Organisationen Mitglied und habe sich in den letzten Tagen voll eingesetzt, praktisch zweieinhalb Tage ohne Schlaf verbracht, was ihr auch wohlwollend bestätigt wird.

Freitag, 23. Januar. Am Vormittag hat die Bereitschaftspolizei CRS die EDF-Agentur geräumt. Bei ihrem Anrücken sind die meisten der Anwesenden "freiwillig" aus dem Gebäude abgezogen. Die meisten wissen, daß die Aktionen damit nicht beendet sind. Den ganzen Tag über arbeiten die Reinigungskräfte eifrig, um jede Spur der Besetzung gründlich zu tilgen. Noch am Morgen waren die Fenster und Wände von Aufklebern für Arbeitszeitverkürzung und für soziale Gerechtigkeit, Flugblättern und Mitteilungen überdeckt gewesen.

Am frühen Nachmittag erinnert nichts mehr an die nur wenige Stunden zurückliegende Episode, außer den CRS-Leuten, die das Gebäude von nun an bewachen werden.