Die Nackten, die Toten und die Ballettratten

Johann Kresnik nimmt sich der Opfer des Stalinismus an: "Hotel Lux" in der Berliner Volksbühne

Die Adresse "Hotel Lux, Ul. Twerskaja 10, Moskwa" ist legendär als Synonym für ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Weltkommunismus. Johann Kresnik hat sich dessen in seinem gleichnamigen choreographischen Theater, uraufgeführt letzte Woche in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, angenommen. Kresnik ist in der Wahl seiner Stoffe gerne auf Konfrontation bedacht. Böse Stimmen nennen seine theatralische Sendung Nachhilfeunterricht in Sachen Staatsbürgerkunde mit eiserner Agitprop-Attitüde. Schließlich hat Kresnik die "Wende" samt den dazugehörenden Hälsen ebenso auf die Bühne gebracht wie Ulrike Meinhof und Ernst Jünger, Uwe Barschel und Rosa Luxemburg. Jetzt sind die Opfer des Stalinismus an der Reihe, und zwar diejenigen aus dem "Hotel Lux".

Um die Jahrhundertwende ließ der Moskauer Unternehmer Filippow über seiner berühmten Bäckerei in der Uliza Twerskaja die Nobelherberge errichten. Nach der Enteignung wurde sie zum Gästehaus für die von Lenin gegründete III. Kommunistische Internationale. In den dreißiger Jahren verwandelte sie sich zur Arche Noah der Faschismus-Flüchtlinge aus ganz Europa. Die Liste der zum Teil jahrelang im "Absteigequartier der Weltrevolution" (Kresnik) logierenden Emigranten ist eindrucksvoll: Georgi Dimitroff, Ruth Fischer, Antonio Gramsci, Ho Chi Minh, Imre Nagy, Wilhelm Pieck, Ernst Reuter, Ernst Thälmann, Maurice Thorez,

Josip Broz Tito, Walter Ulbricht, Herbert Wehner, Clara Zetkin. Doch spätestens seit Stalins Vorwurf an Georgi Dimitroff - "Ihr alle in der Komintern arbeitet dem Feind in die Hände" - wird das "Lux" zur Falle. Nacht für Nacht werden Hotelbewohner abgeholt, erschossen oder in den Gulag deportiert. Offizielle Begründung: "Genossen! 90% dieser Flüchtlinge sind keine Politemigranten, sondern Deserteure, Spitzel und Provokateure."

25 Tänzerinnen und Tänzer bevölkern das nüchterne Bühnenbild von Penelope Wehrli: Eine halbrunde Holzwand mit zahlreichen Türen zu den Zimmern. Später wird sie durch Plexiglas-Wände ersetzt, die orthogonal verstellbar sind und eine zwar durchsichtige, aber normiert begrenzte Welt markieren. Den hermetischen Kosmos des Hotels erweitern Kresnik und Wehrli durch raffinierte Live-Video-Einblendungen auf zwei großen Bildschirmen, die aus der neuen "Volksbühne" das alte "Lux" machen. Die reale Garderobe fungiert als Empfangsraum, in der ein übel gelaunter Zerberus Akten studiert. Das Foyer wird zum Warteraum für das Ensemble.

All das ist nur über die Projektionen zu sehen. Dann werden die separierten Räume durchlässig. Eine Frau mit Mantel und Koffer betritt das Video-Foyer und dann die Bühne. Wir da drinnen, die da draußen - der bequeme Gegensatz gilt nur solange, bis alle hereingekommen sind. So versinnbildlicht Kresnik, daß im Grunde alle in einem Boot sitzen, auch wenn die Ideen der Komintern gerade nicht im Trend liegen. Dann trennen sich die Welten natürlich wieder, die einen schauen zu, während die anderen spielen.

Das Programmheft beschreibt den Ablauf der Choreographie und verspricht dabei leider viel zu viel. Denn Kresnik hat seine szenische Phantasie schnell verbraucht. Bald wiederholen sich Szenenaufbau und Arrangements wie auch die dramatische Mittel. Zwar wird die Atmosphäre im Hotel, die als direkter Reflex auf die allgemeine politische Situation gilt, immer wieder spürbar. Die Hoffnungen der Flüchtlinge hingegen bleiben unbestimmt und nebensächlich. Nicht erstaunlich, wenn sich die Neuen gleich bei der Passierschein-Kontrolle den Mund verbrennen lassen müssen, indem der Ma"tre d'H(tm)tel ihnen ein Streichholz auf die Zunge drückt. Kresnik setzt wieder auf den Schock und läßt Ratten über die Darsteller klettern. Das ist hübsch widerlich und klärt endlich den beliebten Ausdruck "Ballettratte".

Die Atmosphäre ist von Mißtrauen, Bespitzelung und der Furcht vor Verrat dominiert. Ständig öffnen und schließen sich die gucklochbewehrten Türen in aggressiven Stakkato-Intervallen. Was auch immer jemand tut, wird von jemand anderem beobachtet. Und seien es die realen Zuschauer, die mittels einer Schwenkarm-Kamera hinter die Wände blicken können.

Kresnik hat sich zwar paar wunderbare technische Kunstgriffe ausgedacht, verläßt sich aber allzu sehr darauf. Die Regie begnügt sich schon nach kurzer Zeit mit demütigem Nachbuchstabieren und zunehmend einfallslosem Illustrieren von historischen Tatsachen. Als Geschichtslektion bleibt die Inszenierung damit hinter ihrem eigenen Programmheft zurück, als Theaterereignis zerfällt sie in skurrile Einzeldarbietungen und austauschbare Ensembleszenen. Kresnik türmt wüste Einlagen auf simple Assoziationen, Stalin auf Trotzki, zitiert sogar Nijinskis Choreographie von "L' après-midi d'un faune".

Kohärente Spannungsbögen oder differenzierte Binnenszenen gelingen ihm jedoch weder hier noch dort, weshalb er immer stärkere Effekte bemühen muß, um seine Geschichte wenigstens halbwegs zu Ende zu bringen.

Da verführt eine strenge Dame mit Schaftstiefeln und Ledermantel eine männliche nackte Leiche auf der Bahre. Ihre blanken Brüste sind rot gefärbt und mit Hakenkreuzen dekoriert. So schön kann Faschismus sein, vielleicht? Die Compagnie schaut dem neckischen S/M-Ritual zu, und schon im nächsten Moment trägt die Narzisse einen dicken Schnurrbart. Sie knöpft den Mantel zu und steht da wie Väterchen Stalin. Die anderen, mittlerweile auch stalinbärtig, zwingen die Leiche zu einem Spießrutenlauf, bei dem sie ihr die schon wieder abgerissenen Schnäuzer auf die Glatze kleben. Der Mann schreit, schmiert sich schwarzen Staub über den Körper, hält die rußige Zunge in die Kamera, die lose vor der Bühne baumelt und die Mundhöhle auf die Bildschirme vergrößert. Später ist der Mann dann reglos, tot, und wird, auf seinen Koffer geklebt, über die Bühne gezogen. Überhaupt wird viel Gepäck geschleppt, schließlich ist man auf der Flucht.

Die Frauen ziehen sich aus, wenn sie Sex wollen, die Männer, wenn sie zum Opfer werden und gleich eine Kugel in die Stirn kriegen oder in die Klomuschel tauchen müssen. Schließlich erstarrt die Komintern-Bewegung im undurchdringlichen Aktendeckel-Blätterwald. Auf, unter, zwischen den Schreibtischen werden mit heftigem Stampfen, zuckendem Becken, beflissen gereckten Köpfen Stöße von Papier umgewälzt. Bald ist von monatelanger Untersuchungshaft die Rede, von Folterungen, Geständnissen, öffentlichen Selbstbezichtigungen. Die Telefone klingeln, aber alle Leitungen sind besetzt. Die Schritte werden asynchron, die Rhythmen gegenläufig, die Bewegungen chaotisch.

Die Säuberungsprozesse beginnen, wobei sich Kresnik auf seine Art zur Frage "Wo hat der Verrat seinen Ort?" äußert. Einem kopfunter gehaltenen nackten Mann wird mit der Kamera der After untersucht und selbiger zur Freude der Inquisitoren mit einer klumpigen Ekelbrühe begossen. Der derart Angeschissene gerät in einen kämpferischen Pas de deux mit einem Offiziellen, der ein weißes Hemd trägt, was sich aber rasch ändert, worauf der den Kacker erschießt. Ab jetzt wird nicht mehr lange gefackelt. Der Zweite Weltkrieg bricht aus, die Gruppe bricht zusammen. Im Jahr 1943 wird die Komintern aufgelöst. Die Gäste des Hotels marschieren mit ihren Koffern Richtung Ausgang. Bis auf drei werden sie alle von hinten über den Haufen geschossen. Auf der plötzlich sehr leeren Bühne bleibt eine kleine Milizionärin auf einem Schreibtisch sitzen, packt einen Hamburger aus dem Pappkarton und frißt sich in aller Ruhe durch. Über Lausprecher bekriegen sich die sowjetische und die US-Nationalhymne. Dann wird es finster. Wenigstens, bis es wieder hell wird.

"Hotel Lux". Inszenierung und Choreographie: Johann Kresnik; Bühne/Kostüme: Penelope Wehrli; Musik: Christian von Borries; Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Weitere Vorstellungen: 30. Januar und 5. Februar