Foucaults Werkzeugkiste

Thomas Lemke hat sie sortiert. Welche politischen Eingriffsmöglichkeiten bleiben im Liberalismus?

Michel Foucault irritiert. Die Entwicklung seines Denkens folgte keiner erwartbaren Logik. Seine Logik war, wie Gilles Deleuze schrieb, "kein im Gleichgewicht ruhendes System", sondern "wie der Wind, der uns im Rücken trifft, eine Serie von Windstößen und Erschütterungen. Man glaubt sich im Hafen, und man findet sich aufs offene Meer zurückgeworfen". Foucaults Werk kollidiert mit unseren Rezeptionsgewohnheiten: Es macht das Spiel der Kritik, des Aufweisens immanenter Widersprüche und Unvereinbarkeiten, leicht. Aber Foucault drehte Anhängern wie Gegnern doch immer eine Nase und brach in schallendes Gelächter aus: "Nein, nein, ich bin nicht da, wo ihr mich vermutet, sondern ich stehe hier, von wo aus ich euch lachend ansehe", schrieb er übermütig in seinem weitgehend staubtrockenen Buch "Archäologie des Wissens". Große Teile einer Rezeptionsgeschichte Foucaults pervertieren zu einer Verwirrungsgeschichte. Die Figur Foucault wird mehr und mehr zur Legende. Hervé Guibert läßt Foucault in seinem autobiographischen Roman "Der Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat" unter dem Namen Muzil als peitschenschwingenderLedermann in einer Bar des 12. Pariser Arrondissements Opfer ausheben. Ein Ecologe behauptet, Foucault sei die abwesende Hauptfigur in Umberto Ecos (nach dem anderen Foucault benannten) Roman "Das Foucaultsche Pendel". Die zahlreichen Versuche, durch Etikettierung Foucaults der Irritation Herr zu werden, führten zu einer endlos scheinenden Liste: Strukturalist, Neostrukturalist, Poststrukturalist, Relativist, Partikularist, Peripherist, Postmoderner, Nietzscheaner, Heideggerianer, Neokonservativer, Jungkonservativer, Anarchist, Nihilist, Gaullist, Terrorist ...

Doch alle Bestrebungen, sich den großen Verunsicherer mittels Klassifizierung vom Leibe zu halten, münden notwendig in einem Tableau, das nur in schneidendem Lachen eine angemessene Würdigung findet. Wenn überhaupt, sagte die Einordnung etwas über Foucaults (Nicht-)Leser, über die Bornierung des Wissenschaftsbetriebs, seine Ausschließungssysteme und institutionellen Widerstände, Techniken der Domestizierung, die mangelnde Offenheit für inter- und transdisziplinäre Reflexionen. Um von denjenigen Linken zu schweigen, die bis heute den Mangel an argumentativer Auseinandersetzung durch ostentative Gesinnungsstärke und ein Generalverdikt wider "poststrukturalistische" Abirrungen zu kaschieren suchen.

Thomas Lemke hat sich in seiner vorzüglichen Dissertation (bei Joachim Hirsch und Alex Demirovic) von diesen Irritationen in produktiver Weise irritieren lassen. Er nahm sie zum Ausgangspunkt seiner Interpretation, ohne ihnen zu erliegen. Und zwar, indem er manche dieser irritierten und irritierenden Foucault-Interpretation als Symptome ernst nimmt, statt sie bloß auf Denkfaulheit und Nichtlektüre zu reduzieren und sie, eine ebenso leichte wie auf Dauer langweilige Übung, in einer Gegenlektüre des Werkes zu blamieren.

Dieses umwegige Vorgehen mag zunächst strange, manieriert, postmodern, ja abwegig erscheinen. Doch Lemke neigt keineswegs zum Fokkultismus, wie ihn ins transdisziplinäre Nowhere abgedriftete Alt-68er verbreiten. In der Durchführung ist Lemke überaus sorgsam, im positiven Sinn streng akademisch. Was freilich nicht auf Kosten der Lesbarkeit geht. Er hat das umfangreiche Îuvre unter Einschluß zahlreicher nicht publizierter Vorlesungsmanuskripte durchkämmt, ist treffsicher in der Wahl der Zitate und bietet so auch Kennern des Werkes und der ausufernden Sekundärliteratur statt der immer gleichen, bereits kanonisierten Zitate viel Neues.

Die Standardeinwände gegen Foucault, hierzulande von Jürgen Habermas, Axel Honneth u.a., in den USA und Kanada von Nancy Fraser und den Kommunitaristen Charles Taylor und Michael Walzer vertreten, laufen allesamt darauf hinaus, daß Foucault nicht theoretisch aufweisen könne, wie Subjekte überhaupt noch zu Widerstand gegen die allumfassend scheinende Macht fähig sind, und daß er den zweifellos existierenden, von ihm engagiert beförderten Widerstand nicht normativ begründen könne.

Diese hier nur in groben Zügen skizzierte Kritik an Foucault kann sich auf eine vermeintliche Wende im Spätwerk Foucaults stützen. In den kurz vor seinem Tod veröffentlichten beiden Büchern zur Geschichte der Sexualität vollzog Foucault eine für viele überraschende thematische Wendung. Entsprechend interpretiert die Foucault-Kritik das späte Interesse an Subjektivität und Ethik als theoretischen Bruch, als Abkehr von der Machtproblematik und Flucht aus einer theoretischen Sackgasse.

Lemke vertritt die entgegengesetzte These: "Foucaults Interesse für Subjektivierungsprobleme ist das Ergebnis und die Konsequenz seiner Beschäftigung mit Machtpraktiken. Sie repräsentiert nicht eine Aufgabe seiner Machtanalytik, sondern ihre Erweiterung. Es handelt sich weniger um einen Abschied von der Machtproblematik als um eine Korrektur, die in einer Kontinuität mit seinen früheren Arbeiten steht und sie zugleich präzisiert und relativiert."

Um dies zu zeigen, schlägt Lemke einen durchaus konventionellen Weg der Beweisführung ein. (Das ist keineswegs kritisch gemeint.) Kritisierenswert ist das originelle Vorgehen jener Vertreter der These vom intellektuellen Bruch, die sich kaum oder gar nicht mit dem in etlichen kleineren verstreuten Schriften und den Vorlesungsnachschriften (gesammelt im Pariser Foucault-Archiv) zugänglichen theoretischen Schaffen Foucaults in den Jahren zwischen "Der Wille zum Wissen" (1976) und den 1984 veröffentlichten Bänden "Der Gebrauch der Lüste" und "Die Sorge um sich" beschäftigen. Der hier entwickelte Begriff der Regierung bzw. Gouvernementalität wird erstaunlicherweise kaum diskutiert. "Die Regierungsproblematik ist in der Auseinandersetzung um die theoretische und politische Dimension der Arbeit Foucaults praktisch abwesend." Lemke zeigt, daß der Regierungsbegriff eine Scharnierfunktion einnimmt. Foucault konzipiert Regierung als Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen, womit er - Soziologen forderten dies mit gutem Grund - endlich zwischen Macht und Herrschaft zu unterscheiden vermag. Zweitens vermittelt der Regierungsbegriff zwischen Macht und Subjektivität; Foucault kann nun die Untersuchung von Herrschaftstechniken mit der von "Technologien des Selbst" verknüpfen.

Im ersten, "Die Mikrophysik der Macht" betitelten Teil rekapituliert Lemke die Wandlung in Foucaults Werk von den frühen sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. War im großen Erstling "Wahnsinn und Gesellschaft" das Machtproblem durchaus präsent - wenn auch nicht theoretisch durchdrungen -, verengte Foucault später, in "Die Ordnung der Dinge", die Untersuchung auf die internen Formationsregeln von Spezialdiskursen. Auch in seinem methodologischen Versuch, der "Archäologie des Wissens", blieben politische, soziale und ökonomische Faktoren weitgehend ausgeklammert. Das änderte sich mit der Antrittsvorlesung am Collège de France, die unter dem Titel "Die Ordnung des Diskurses" das Verhältnis von Macht und Wissen ins Zentrum des theoretischen Interesses rückte. Indes orientierte sich Foucault in dieser Arbeitsphase an einem engen Modell von Macht, an Ausschließung, Zwang, Unterdrückung und Verbot. Im Zuge des politischen Engagements (so in der Gefängnisbewegung) wird Foucault die Verengung auf "negative" Machtformen deutlich. Das Buch "Überwachen und Strafen" ersetzt die juridisch-negative durch eine strategisch positive Konzeption von Macht. Die analytischen Bezugsmodelle sind Krieg, Kampf und Schlacht. Problematisch bleibt hier allerdings erstens das Verhältnis von Mikro- und Makrophysik der Macht, zwischen aufs Individuum zielender, es formierender (Körper-)Disziplinierung einerseits, gesellschaftlicher Kontrolle andererseits. Zweitens bleiben die vielfältigen Beziehungen zwischen Subjektivität und Macht unterbelichtet. Individuen scheinen auf bloße Spielbälle von Machtprozessen reduziert, was prinzipiell die zugleich vehement behauptete Möglichkeit von Widerstand fraglich erscheinen läßt.

An diesen beiden Problemen arbeitet sich Lemke im zweiten, "Die Gouvernementalität" überschriebenen Teil ab, indem er die unveröffentlichten Vorlesungen Foucaults rekonstruiert. Während der Begriff der "Biomacht" das Analysefeld um die Regulierung der Bevölkerung erweitert, wird mit der Regierungsproblematik das Feld der Analyse umstrukturiert. Im Unterschied zum bereits verworfenen juridischen Machtkonzept und dem an diese Stelle getretenen strategischen Modell wird Macht als "Führung" bestimmt.

Mit diesem Konzept geht Foucault an weitere historische Forschung, untersucht die "Genealogie des modernen Staates", also die Entstehung der modernen politischen Rationalität, und die "Genealogie des modernen Subjekts", angefangen beim christlichen Pastorat und seinen säkularisierten Nachfolgern, der "Staatsraison" und der "Polizei" als "guter Ordnung".

Im 18. Jahrhundert wird die Legitimation politischer Souveränität in Frage gestellt, die liberale Gouvernementalität bildet sich heraus. Sie verpflichtet die politische Vernunft auf das ökonomisch-rationale Handeln nutzenmaximierender Individuen und erfährt im 19. Jahrhundert mit der Entstehung der sozialen Frage einschneidende Veränderungen. Herausgefordert von sozialen Kämpfen, wird die liberale gesellschaftliche Regulierung durch das Diagramm einer "Sicherheitsgesellschaft" ersetzt, eine soziale Rationalität ergänzt fortan die ökonomische Vernunft. Foucault verfolgte diese Entwicklung in seinen Vorlesungen weiter bis zum Neoliberalismus der Chicagoer Schule, die eine Regierungsrationalität entwickelte, die die ökonomische Form auf das Soziale auszudehnen suchte. Hier wäre, über die - im Rahmen einer Werkrekonstruktion legitime - Beschränkung Lemkes hinaus, für die Analyse der Gegenwart anzuknüpfen. Wie sind heute wirtschaftlicher Wohlstand und persönliches Wohlsein gekoppelt, wie funktioniert das Zusammenspiel von schlanken fitten individuellen Körpern und schlanker Produktion und schlankem Staat?

In "Politik und Ethik", dem dritten Teil, spannt Lemke den Bogen zum Spätwerk und seiner nun nicht mehr überraschenden Thematisierung des Subjekts. Aufbauend auf dem Regierungsbegriff, kann Foucault das Verhältnis von Subjektivität und Widerstand deutlicher fassen. Basieren christliche Führungstechniken auf der Produktion von Wahrheit (z.B in der Beichte) und lebt dieser "Geständniszwang" in modernen Subjektivitätsformen, die auf der Konzeption einer "wahren " Subjektivität aufbauen (z.B im therapeutischen und/oder esoterischen "Sei Du selbst!"), sucht Foucault Distanz zu dieser vermeintlichen Wahrheit des Selbst, indem er die Geschichtlichkeit und damit Kontingenz jener universelle Geltung behauptenden Wahrheits-Zwänge aufzeigt. Kritik meint dann, sich nicht so regieren lassen, sie kämpft um Wahrheit, die eben nicht unumstritten "universell" ist, gegen Führungsansprüche und sucht nach anderen Spielregeln. "Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man nicht, indem man ein dem Spiel der Wahrheit ganz fremdes Spiel spielt, sondern indem man es anders spielt", meinte Foucault.

Anders und mit Esprit spielt Lemke das akademische Wahrheitsspiel, sich an dieser Stelle selbst praktisch widerlegend, da er doch akademisch erfolgreich und sehr lehrreich wissenschaftlich über Foucault gesprochen hat: Was Foucault über Mendel schrieb, den die zeitgenössischen Botaniker und Biologen verkannten, weil er nicht in den anderen Regeln folgenden biologischen Diskurs seiner Epoche paßte, wendet Lemke auf Foucault: Er "war ein wahres Monstrum, weshalb die Wissenschaft nicht von ihm sprechen konnte".

Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Argument, Berlin/Hamburg 1997, 412 S., DM 39,80