"Marius und Jeannette"

Proletarische Wagenburg

Im Marseiller Arbeiterviertel Estaque mit seinen beschaulichen Gäßchen, seinen putzigen Häusern und seiner verwinkelten Architektur, die viele kleine Plätze und Höfe entstehen läßt, findet ein reges soziales Leben statt. Caroline, die während der deutschen Besatzung in einem Internierungslager war, der pensionierte Lehrer Justin, die alleinerziehende Jeannette und die resolute Monique nebst ihrem etwas einfältigen Ehemann Dédé treffen sich unter der mediterranen Sonne ständig zum Essen, Probleme wälzen oder Fußball gucken.

Daß die Welt in diesem Reservat der Arbeiterkultur nicht mehr so ganz heil ist, nimmt auch Regisseur Guédiguian wahr, ohne allerdings die Konsequenzen zu ziehen. 35 Prozent der Estaque-Bewohner haben bei der letzten Wahl den Front National gewählt, 65 Prozent die Kommunisten. Guédiguian zeigt einen solchen Front National-Wähler, Dédé, zeichnet ihn jedoch gnädig als einen etwas naiven, aber herzensguten "Protestwähler", der durch sein funktionierendes soziales Umfeld und die Enttäuschung darüber, daß Le Pen seine miese Lage nicht erträglicher gemacht hat, bald wieder auf den Pfad der Tugend zurückkehrt.

Den islamischen Fundamentalismus, als zweite desintegrierende Kraft, glaubt der Regisseur durch eine an den Pluralismus gemahnende Rede des Ex-Lehrers in seine Schranken verweisen zu können.

Nur äußerst selten verläßt der Film den Mikrokosmos von Estaque. Es gibt kurze Ausflüge in die Industrie-Brache einer Zementfabrik, einmal kommt eine lange Warteschlange Arbeitssuchender ins Bild und am Anfang wird der Supermarkt gezeigt, aus dem Jeannette rausfliegt. Aber selbst der Filial-Leiter, der die Kündigung ausspricht, erscheint nicht als Repräsentant der anderen Welt. Er taucht im weiteren Verlauf als Dessous-Verkäufer und Kellner wieder auf, und sein Weg nach unten macht ihn zu einem Genossen.

Fast panisch verschanzt sich "Marius und Jeannette" in der proletarischen Wagenburg. Seine Bewohner haben, knietief im "Milljöh" stekkend, weit mehr als nur ihre Ketten zu verlieren, was auch eine Erklärung dafür sein dürfte, daß sie zu einem guten Drittel - eben den Le Pen-Wählern - nicht gerade Solidarität mit den Entwurzelten und Hybriden der Gesellschaft, wie den Einwanderern und Franzosen algerischer Herkunft, bekunden.

Das große Solidarprojekt des Films stellt die Liebe dar. Mit vereinten Kräften gelingt es der Community, Marius und Jeannette, zum Happy-End zu verbandeln. Erotik galt schon Caroline in den Zeiten des Internierungslagers als Überlebenselixier, und die ansteckende Vitalität ihrer Freundinnen von damals führt der Film ebenfalls dialektisch auf die damaligen existentiellen Erfahrungen zurück. Engagement und Erotik sind als "Intensitäten" wahlverwandt, soll einem dies nahelegen. Etwas zu schön, um wahr zu sein, wie der ganze Film.

"Marius und Jeannette". Frankreich 1996. R: Robert Guédiguian, D: Gérard Meylan, Ariane Ascaride.Start: 29. Januar