Asyl-Mobbing in der EU

Außenminister Kinkel fordert eine "gerechtere Lastenverteilung" von Flüchtlingen innerhalb der EU

In welchem EU-Land Flüchtlinge künftig leben dürfen, will Bonn bestimmen. Die Bundesrepublik, so Außenminister Klaus Kinkel (FDP) auf der EU-Außenministerkonferenz vergangene Woche, sei das "Hauptzielland des Flüchtlingsstroms". Mit den Kriegsflüchtlingen aus Bosnien und den Kurdengebieten in der Türkei und dem Irak habe die BRD "mehr als doppelt so viele Flüchtlinge wie alle anderen EU-Staaten zusammen aufgenommen". Das, so Kinkel in Brüssel, müsse sich ändern und sofort ein Aktionsplan vereinbart werden, der Flüchtlingen die "illegale Einreise" erschwere.

Gesagt, getan. Allein, was in Brüssel beschlossen wurde, geht weitgehend einher mit dem, was im Schengener Abkommen längst festgelegt ist: Schlepperbanden sollen schärfer bekämpft, der Informationsaustausch über Flüchtlinge intensiviert werden - nicht zuletzt mit möglichen Transitländern auf dem Balkan. Die EU-interne Aufregung nach der Ankunft von rund 1 500 Flüchtlingen im Süden Italiens zum Jahreswechsel hat sich inzwischen gelegt, die Konferenzteilnehmer in Brüssel wiederholten lediglich, was ohnehin schon fester Bestandteil des europäischen Abschottungssystems ist. So konnte ein Sprecher des Auswärtigen Amts Jungle World keine Angaben über die konkreten Neuerungen des EU-Aktionsplans gegenüber bisherigen Regelungen machen. Es handele sich bei dem Plan um Einzelmaßnahmen, die den "Zuzug illegaler Flüchtlinge weiter einschränken" sollten. - Alles schon mal gehört?

Ja und nein. Ja, weil bereits Anfang Dezember letzten Jahres EU-Diplomaten einen Grundsatzbeschluß über den Maßnahmenkatalog gefaßt hatten, der nun nur noch von den Außenministern abgesegnet werden mußte. Mit dem Sofortprogramm erhält die in Den Haag ansässige Europäische Drogenbeobachtungsstelle, die Vorläuferbehörde des geplanten Europäischen Polizeiamts Europol, die ausdrückliche Zuständigkeit für die Bekämpfung von Schleppern. Bisher war die Haager Dienststelle nur mit allgemein gehaltenen Befugnissen gegen Menschenhandel ausgestattet.

Auch der zweite Schwerpunkt des Aktionsplans ist nicht neu: Die Informationsweitergabe über Flüchtlingsbewegungen soll von den Herkunfts- auf die Transitländer erweitert werden. Aus- und Fortbildung der Grenzpolizei in den Durchgangsstaaten sowie das Erkennen von gefälschten Reise- und Einreisedokumenten bereits auf den Fluchtwegen rücken damit in den Mittelpunkt der gemeinsamen Anstrengungen von EU und Anliegerstaaten. Angesichts der jüngsten Verstimmungen zwischen der EU und der Türkei erscheinen die von den EU-Staaten angestrebten Versuche, auf diese Weise Einfluß auf die Streitparteien in der Region zu nehmen, als der am schwersten zu realisierende Aspekt des Programms.

Dafür, daß sich das Machtgefüge innerhalb der EU weiter zugunsten Bonns verschiebt, sorgte in Brüssel Kinkel (FDP). "Wir können nicht die Not der ganzen Welt schultern", reklamierte der frühere BND-Chef die Rolle des "Das Boot ist voll"-Deutschen für sich. 1997 seien an die 17 000 türkische Flüchtlinge in die BRD gekommen, die meisten davon Kurden, die keineswegs aus den Kriegsgebieten im Südosten des Landes geflohen seien, sondern "aus den Slums am Rande von Ankara und Istanbul". Ein "fast noch größeres Problem", so Kinkel, stellten darüber hinaus die 14 000 irakischen Kurden dar, die letztes Jahr nach Deutschland geflohen seien.

Kinkel hat recht: Mit einer Anerkennungsquote von fast 80 Prozent stehen die Chancen auf einen erfolgreichen Asylantrag für Kurden aus dem Nordirak so gut wie für keine andere Flüchtlingsgruppe in der BRD - die durchschnittliche Anerkennungsquote ist seit der De-facto-Abschaffung von Artikel 16 im Jahr 1993 stetig gesunken und liegt inzwischen bei knapp drei Prozent. Was Kinkel nicht sagt: Um den letzten bundesweit gültigen Abschiebestopp in den Irak zu umgehen, hat die Bundesregierung längst den Weg zwischenstaatlicher Verhandlungen verlassen und eruiert seit letztem Frühjahr in Verhandlungen mit kurdischen Milizenchefs Abschiebungen auf dem Landweg über die Türkei.

Insofern stellte Kinkels Auftritt in Brüssel die Fortsetzung des an Weihnachten begonnenen Streits zwischen Italien und der BRD über den Umgang mit kurdischen Flüchtlingen innerhalb des Schengen-Raums dar: Kinkel konnte Pluspunkte sammeln, die italienische Delegation nur wenig erwidern. Die deutsche Panikmache zu Jahresbeginn zahlt sich nun aus. Auch wenn es nur wenig mehr als tausend Kurden waren, die in Italien landeten, sind sie der Angleichung der europäischen Asylpolitik an deutsches Niveau doch sehr dienlich. Folgerichtig äußerte Kinkel die Erwartung, daß es zu einer "gerechteren Lastenverteilung innerhalb der EU" kommen müsse. Schließlich gebe es schon jetzt jährlich über 100 000 Asylanträge in der BRD. Nur, und auch das sagt Kinkel nicht: Angesichts der restriktiven deutschen Asylgesetzgebung kann kaum ein Fünftel der Antragsteller tatsächlich im Land bleiben.

Die starre Haltung Bonns beim Asylrecht verband Innenminister Manfred Kanther (CDU) am Wochenende mit dem deutschen Festhalten am Veto-Recht in der europäischen Justiz- und Innenpolitik. Auf einer Tagung der EU-Innenminister in Birmingham bekräftigte Kanther zwar das Fernziel, auch in diesen Bereichen zu Mehrheitsbeschlüssen zu kommen. "Solange aber die Lasten so ungleich verteilt sind wie sie es jetzt sind, sehe ich auf absehbare Zeit keinen Raum dafür." Den anderen EU-Staaten warf er vor, über Jahre hinweg jeden konkreten Beschluß darüber abgelehnt zu haben, wer wieviele Flüchtlinge aufnehemen solle. Die ungleichmäßige Verteilung gehe schon seit Jahren "zu Lasten Deutschlands, ohne daß sich sonst irgend jemand in Europa daran gestört hätte".

Nicht durchsetzen konnte sich Kanther mit der Forderung, auch die Fingerabdrücke von Einwanderern schon im Ankunftsstaat zu erfassen. Nur mit der Ausdehnung des europäischen Systems zur Erfassung von Fingerabdrücken bei Asylbewerbern (Eurodac) auf andere Einwanderergruppen könne nachgewiesen werden, daß beispielsweise Kurden zuerst in Griechenland oder Italien angekommen seien - wohin sie dann auch wieder zurückgeschickt werden können. Schweden, Belgien, Spanien und Griechenland lehnten den Kanther-Vorstoß ab - allesamt Länder mit EU-Außengrenzen, die zugleich Meeresgrenzen sind.

Was den Informationsaustausch mit Transit- und Herkunftsländern anbelangt, ist die BRD den anderen EU-Staaten ebenfalls voraus. Nach Informationen der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl gibt der Bundesgrenzschutz (BGS) bereits heute persönliche Daten von Flüchtlingen weiter. Die auf europäischer Ebene geplante Aushebelung datenrechtlicher Schutzbestimmungen bei Flüchtlingen ist in der BRD bestehende Tatsache. Pro Asyl kritisiert, daß ohne Wissen der Flüchtlinge ein "kurzer Draht" zu möglichen Verfolgerländern hergestellt werde.

Was bleibt nach der Brüsseler Konferenz, ist ein neuer Eintrag ins Wörterbuch des staatlichen Rassismus: Kinkels Wort vom "Asyl-Shopping". Zuwanderer, so Kinkel, sollten sich nicht aussuchen dürfen, in welches Land der EU sie schließlich gehen, sondern da bleiben, wo sie ankommen. Der Hintergrund ist klar: Mit der immer lückenloseren Abriegelung der deutschen Ostgrenzen hat die Bundesregierung kein Interesse daran, daß sich über Italien und Österreich neue Fluchtwege in die BRD erschließen. Um das zu verhindern, drängt Bonn auf eine Änderung der - zumindest gegenüber kurdischen Flüchtlingen - relativ liberalen italienischen Asylgesetze. Was auf europäischer Ebene im Dubliner Abkommen geregelt ist - die Flüchtlingen offenstehende Möglichkeit, per Touristenvisum in das Land ihrer Wahl zu reisen -, soll unterlaufen werden. Die von Kinkel eingeforderte "europäische Solidarität" meint immer noch dasselbe: Wer Flüchtlinge weiterreisen läßt, stört das Bonner Interesse an für Migranten geschlossenen Grenzen innerhalb des Schengen-Raums.