Klasse Rasse

»Racism keeps the working class divided«

Handeln lohnabhängige Rassisten gegen ihre eigenen Interessen?

In den linken Diskussionen über Rassismus gibt es Erklärungsansätze, die den ökonomischen Beziehungen eine fast vollständig determinierende Wirkung auf die sozialen Strukturen der Gesellschaftsformationen zuschreiben: "Wenn Rassismus und Sexismus angeblich nicht polit-ökonomisch erklärt werden können, wie denn dann?" fragte erst vor einiger Zeit eine linke Berliner Zeitschrift und in einer anderen, ebenfalls aus Berlin, war zu lesen, das "Postulat des Hauptwiderspruchs" sei völlig in Ordnung, denn "ohne Liquidierung des Kapitalismus können Probleme, die sich zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Nord und Süd, zwischen Mann und Frau aufgetürmt haben, nicht gelöst werden".

Diese Überzeugung, Marx habe alle gesellschaftlichen Phänomene auf einen Ursprung bzw. auf eine einzige Logik reduziert, verwechselt die Modellbildung der Marxschen strukturalen Analyse mit Strukturdeterminismus und Substantialismus. Sie übersieht außerdem den Unterschied zwischen den Abstraktionen der Klassentheoretiker, den "Klassen auf dem Papier" (Bourdieu) und den konkreten sozialen Klassen, deren interne Zusammensetzung und externen Grenzen in bestimmten Ländern und Zeiten jeweils in sozialen Auseinandersetzungen festgelegt werden.

Für solche Denkschulen kommt es überdies auf die willentlichen Handlungen der sozialen Kräfte überhaupt nicht an, weil sie von einer geschichtsphilosophisch begründeten Produktionsweisen-Periodisierung ausgehen, die jeder "Epoche" einen "Hauptwiderspruch" zuordnet. So konstruiert man zunächst eine dem "Kapital" symmetrisch gegenüberstehende, in ihren Reihen fest geschlossene "Arbeiterbewegung" - als bestünde zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht die vermittelte Identität eines gesellschaftlichen Verhältnisses -, um anschließend bedauernd zahllose "Spaltungen" dieser "Klasse" festzustellen, verursacht durch Rassismus, Sexismus, religiöse und politische Orientierung, unterschiedliche Lebensstile und vieles mehr. Das Resultat ist immer das gleiche: "Racism keeps the working class divided."

In welcher Tradition diese "Antikapitalismus ist der beste Antirassismus"-Rhetorik steht, läßt sich der auf den Innenseiten dieses Dossiers abgedruckten Debatte zur "Negerfrage" entnehmen, die 1922 in Moskau auf einer Konferenz der Kommunistischen Internationale (KI) geführt wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die damaligen Revolutionäre gerade erst begonnen hatten, sich vom Eurozentrismus der II. Internationale zu lösen, und ihre Rassismusdiskussion noch ganz am Anfang stand. Die Möglichkeit, Rassismus anders denken zu können denn als "falsches Bewußtsein" und Antirassismus anders denn als "Solidarität der Rassen", war damals bedeutend schlechter als heute, weil der Glaube an die Wahrheit wissenschaftlicher Klassifikationen noch völlig ungebrochen war. So gesehen ist es sehr bemerkenswert, daß die KI sich praktisch über die Lehrmeinung der II. Internationale hinwegsetzte und soziale Kämpfe, die sich nicht als Klassenkämpfe definieren ließen, trotzdem ernst nahm und unterstützen wollte. Daß sie dazu essentialistische Kategorien wie "Völker" und "Rassen" kritiklos übernahm, ergab sich daraus, daß sie nach ihrem Verständnis vom historischen Materialismus auch die nicht dem "Hauptwiderspruch" gehorchenden antikolonialen und antirassistischen Kämpfe nach dem hegelianischen Modus der Notwendigkeit begründen mußte. Man fand die Begründung im Begriff der "imperialistischen Epoche". Demnach hatte sich in der "Niedergangsperiode" des Kapitalismus die "Funktion" solcher Kämpfe so verändert, daß sie prinzipiell zu sozialistischen Bewegungen werden konnten. Nur diese fragwürdige Konstruktion erlaubte es der KI, die unabhängig von der US-amerikanischen Arbeiterbewegung existierende "Negerbewegung" überhaupt als eigenständige politische Kraft zu würdigen. Aus demselben Grund wurde diese Bewegung dann aber auch umstandslos als die einer "Rasse" eingeordnet, womit die KI sogar hinter der 20 Jahre zuvor entstandenen Plechanow-Schrift "Über materialistische Geschichtsauffassung" zurückblieb, wo der phänotypische Rassebegriff bereits in Zweifel gezogen wurde, wenn auch mit dem biologischen Argument, es gebe nur "Kreuzung und Mischung".

Trotzdem wurde es 1922 nicht zu Unrecht als bedeutsam empfunden, daß eine weltweit agierende kommunistische Strömung mit Millionen Aktivisten, den von allen anderen politischen Kräften diskriminierten und unterdrückten "Negern" ihre Solidarität versicherte und sie sogar als Teil der US-amerikanischen Arbeiterklasse ansprach. Bis 1922 gab es für Afroamerikaner wenig Gründe, vom Marxismus etwas zu erwarten. Als "rassifizierte" Teile der Lohnabhängigen und des unteren Mittelstandes waren sie von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wie auch von mittelständischen Interessenvereinen praktisch ausgeschlossen. Nach dem Vierten Kongreß der KI warb hingegen die KP der USA nachdrücklich um ihre Zustimmung. Eine große Anzahl afroamerikanischer Genossen und Genossinnen wurde in die höchsten Leitungsgremien der Partei gewählt, und viele "weiße" Kommunisten wurden durch ihr persönliches Engagement sogar zu begeisterten Fans des Rhythm & Blues. Daß eine Historisierung der damaligen Positionen trotzdem nicht angebracht ist, zeigt der in diesem Dossier nicht mehr dokumentierte Ausgang der Geschichte: Das Engagement endete 1928, nachdem der Sechste Kongreß der Komintern beschlossen hatte, daß es sich bei den Afroamerikanern um eine "Nation in der Nation" (vorher: "nationale Minderheit") handelt, die Anspruch auf "nationale Selbstbestimmung" in einer Negro Soviet Republic auf dem Territorium der USA habe. Diese von Stalin favorisierte Black Belt-Lösung, die - ohne den Zusatz Soviet - heute von der Nation of Islam und dem Ku Klux Klan propagiert wird, wurde von der bis dahin ernsthaft und auch erfolgreich um "multi-ethnische" Strukturen bemühten KP der USA bis in die sechziger Jahre tatsächlich propagiert. Nachdem man das aktive Ausgrenzungsinteresse der "weißen" Proletarier als temporäres "falsches Bewußtsein" bagatellisiert hatte, war man nun erleichtert, der eigenen Klientel nicht länger widersprechen zu müssen.

Diese Kapitulation war bereits in der Begründung der Solidarität angelegt: Schon damals hatte man die falsche Frage gestellt: Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen? Indem man auf diese Weise völlig grundlos den Rassismus jenseits seiner eigenen Existenzbedingungen als "Ausdruck" mißlungener Klassensolidarität betrachtete und "Rasse" in diverse Klassenbegriffe auflöste (in den "am meisten geknechteten Teil der Arbeiterklasse", das "Subproletariat", die "Reservearmee" etc.), gerieten die konkreten rassifizierenden Praktiken, durch die verschiedene soziale Gruppen in bezug auf die elementaren Strukturen der Gesellschaft positioniert und fixiert werden, aus dem Blick. Da an diesen Positionierungen die "weißen" Arbeiter aktiv mitwirkten, wurden die entsprechenden sozialen Praktiken - zunächst indirekt - auch von der KP legitimiert. Wo "weiße" Arbeiter die Ausschaltung potentieller "schwarzer" Konkurrenten betrieben und sogar vom Staat repressive Regulierungen forderten, konnte schließlich auch die Rede vom "falschen Bewußtsein" nichts mehr beschönigen. Am Ende hatte sich die latente Neigung, dem "Einfluß" zuliebe das Vorhandensein des Rassismus in den "weißen" Arbeiterorganisationen herunterzuspielen, durchgesetzt.

Für die Marginalisierten bestätigte sich damit abermals, daß sie unter diesen Voraussetzungen auf autonome (und notwendig klassenübergreifende) politische Organisationen nicht verzichten können. Sie mußten sich an der Erfahrung orientieren, daß sie nicht von "dem Kapitalismus", sondern von "Weißen" aller sozialen Schichten niedergedrückt wurden. Für sie existierte ein anderer "Hauptwiderspruch". Selbst die Kommunisten waren ja nur wegen der unübersehbaren Existenz der Massenbewegungen dieser Marginalisierten auf die "Negerfrage" aufmerksam geworden.

Die Erinnerung an diese 76 Jahre zurückliegende linke Antirassismus-Diskussion macht Traditionslinien und Entwicklungen deutlich: Einerseits waren einige deutsche Linke noch bis zum Streit um Christoph Türckes "klassifizierende, nicht wertend gebrauchte" Hautfarbenlehre (C. Nachtmann) auf dem konkret-Kongreß (1993) nicht einmal auf dem Stand von 1903. Andererseits hat die internationale linke Rassismus-Diskussion seit Mitte der achtziger Jahre die klassenreduktionistischen Ansätze meistens überwunden. Dabei gewannen jedoch kulturalistische Ansätze an Einfluß, die sich mit der Abhängigkeit der Individuen von ihrer Plazierung im Produktionsprozeß und auf den Märkten nicht mehr auseinandersetzen.