»Wir kommen wieder!«

Im Februar 1997 ermordeten Rechte in Magdeburg den Punker Frank Böttcher. Im Dezember drangen sie in die Wohnung seines Bruders ein, verletzten dessen Freund Gordon schwer und drohten: Wir kommen wieder.

"Eigentlich wünsche ich mir nur, daß ich meinen Bruder irgendwo wiederfinde und wir zusammen weiterleben können." Die Stimme wird ganz leise, und die Augen gucken für einen Moment ins Leere. Als sein jüngerer Bruder Frank vor genau einem Jahr an einer Straßenbahnhaltestelle im Magdeburger Plattenbauviertel Neu-Olvenstedt von einem rechten Skinhead mit sieben Messerstichen erstochen wurde, war Peter Böttcher gerade 18 Jahre alt.

Zusammen mit seinem Bruder und anderen Jugendlichen wohnte er in einer von Sozialarbeitern betreuten Wohngemeinschaft. "Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Frank wirklich tot war. Bis zu seiner Beerdigung habe ich jeden Tag an seine Zimmertüre geklopft", sagt Peter über die ersten Wochen nach dem Mord an Frank.

Der 17jährige Frank hatte den Fehler begangen, mit einem knallrot gefärbten Irokesenhaarschnitt nachts alleine in einem Stadtteil von Magdeburg auf die Straßenbahn zu warten, in dem die Rechten seit 1990 das Sagen haben. Bis zur Ergreifung des gleichaltrigen Täters, vierzehn Tage nach dem Mord, hatten Polizei und Staatsanwaltschaft einen rechten Hintergrund der Tat öffentlich abgestritten. Statt dessen spekulierten sie über einen Streit unter Punks. Peter erzählt, daß ihn Polizeibeamte nach dem Mord mehrmals verhörten und ihm unterstellten, er habe seinen eigenen Bruder umgebracht. "Sie sagten, daß wir Streit wegen einem Mädchen gehabt hätten." Die Polizei ließ ihn erst in Ruhe, nachdem der Täter verhaftet worden war und gestanden hatte, daß er sich durch den wesentlich kleineren und schwächeren Frank Böttcher "irgendwie provoziert" gefühlt und deshalb mit seinem Springermesser zugestochen habe.

Peter Böttcher hatte sich immer für seinen jüngeren Bruder verantwortlich gefühlt, nachdem beide schon als Teenager von Zuhause ausgezogen waren. "Es gab immer Streit mit unserem Vater", ist alles, was er dazu sagen will. Peter fand einen WG-Platz und eine Lehrstelle als Koch. Frank wurde vom Jugendamt von einem Heim ins nächste verwiesen, bis Peter ihm schließlich mit 16 auch ein Zimmer in seiner Wohngemeinschaft organisieren konnte. "Ich hab ihm gleich am ersten Tag gesagt, daß er als Punk nicht alleine nach Neu-Olvenstedt und Magdeburg-Nord gehen darf, weil das zu gefährlich ist." Warum Frank diesen Ratschlag in der Nacht vom 7. Februar letzten Jahres mißachtete und eine Handverletzung ausgerechnet in einem Krankenhaus in Neu-Olvenstedt behandeln lassen wollte, kann sich Peter bis heute nicht erklären.

Der Tod seines Bruders hat sein Leben völlig verändert. "Vorher war ich eigentlich kein Punk. Danach bin ich in die Szene reingerutscht und jetzt lebe ich das Leben von meinem Bruder weiter." Was das bedeutet, beschreibt Peter mit "Spaß haben, Musik hören, mit Freunden abhängen, nicht mehr alleine sein", sich schon durch die Kleidung von anderen Jugendlichen in Magdeburg unterscheiden - schwarze Kapuzenpullover, bunte Haare, kaputte Klamotten. Musik zu hören, die Punks schon vor zehn Jahren gehört haben - Sex Pistols und Slime oder Die Skeptiker, die in ihren Liedern das Leben in ostdeutschen Städten so beschreiben, wie Peter und seine Freunde es tagtäglich erleben.

Angst ist ein Teil von Peters Leben, seitdem er mit 14 das erste Mal einen Skinhead-Überfall miterlebte. Damals, im Sommer 1992 , überfielen 60 Skinheads und Neonazis eine Geburtstagsparty von Punks und ihren Freunden in dem Magdeburger Ausflugslokal "Elbterrassen". Mit Baseballkeulen schlugen sie auf die Partygäste ein und verletzten den 23jährigen Punk Thorsten Lamprecht durch zwei Schläge auf den Kopf so schwer, daß er noch in derselben Nacht starb. Weil die alarmierte Polizei sich zunächst nicht in das Lokal wagte, konnten die Angreifer ungehindert flüchten.

Peter Böttcher zog sich danach erst einmal völlig aus der linken Jugendszene in Magdeburg zurück. "Ich war ziemlich jung, und der Überfall war einfach zu heftig." Auch wenn sich die älteren Skinheads nach dem Überfall auf die "Elbterrassen" zunächst auf der Straße zurückhielten, änderte sich nichts an dem alltäglichen Terror gegen Menschen, die "irgendwie anders aussehen" - vor allem Ausländer und Punks. Längst verbreiteten neonazistische Gruppierungen wie die inzwischen verbotene Wiking Jugend und die immer noch legale rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ihre rassistische Propaganda in den Jugendclubs der Skinheads. "Die Kader kamen aus westdeutschen Städten wie Wolfsburg und Braunschweig angereist und haben uns zu Konzerten und Schulungsveranstaltungen eingeladen", erzählt ein Skinhead, der inzwischen ausgestiegen ist.

Niemand in Magdeburg wunderte sich darüber, daß der organisierten Hetze tätliche Angriffe folgten. Am Himmelfahrtstag 1994 machten fast hundert Skinheads in der Innenstadt von Magdeburg Jagd auf Ausländer und verletzten mehrere von ihnen schwer. Obwohl einige Sozialarbeiter der rechten Szene mittlerweile einräumen, daß schon Tage vor den Übergriffen Gerüchte über Randale kursierten, gab sich der damalige Polizeipräsident von Magdeburg überrascht. Seine Erklärung: "Das war eine Mischung aus Brauchtum, Sonne und Alkohol."

Die Stadt reagierte mit der Eröffnung weiterer Jugendclubs und ließ die Skins gewähren. Von 1994 bis zum Sommer letzten Jahres konnten beispielsweise die beiden Naziskinbands Elbsturm undDoitsche Patrioten ungestört in dem mit Mitteln der Stadt und des Landes Sachsen-Anhalt finanzierten Magdeburger Jugendclub "Brunnenhof" proben. Obwohl der Verfassungsschutz die Lieder der "Doitschen Patrioten" bereits in seinem Jahresbericht von 1994 als Beispiel für die "Glorifizierung nationalsozialistischer Kultfiguren" wie Rudolf Heß erwähnte und deren CD auf den Index gesetzt wurde, passierte drei Jahre lang nichts.

Als CDU-Politiker im Oktober letzten Jahres, knapp sechs Monate nach Frank Böttchers Tod, in der Stadtverordnetenversammlung forderten, "alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen", um ein von Punks gemietetes Haus im Magdeburger Bezirk Stadtfeld zu räumen, konnten sich die rechten Schläger bei ihrer Jagd auf Punks auch noch des Beifalls über die eigenen Reihen hinaus gewiß sein. "Dabei ist es unser einziger Schutz, wenn wir nicht alleine wohnen", wehren sich die zwanzig Bewohner des Wohnprojektes gegen Pläne, sie auf verschiedene Wohnungen zu verteilen.

Wie wichtig dieser Schutz ist, mußte Peter Böttcher vor kurzem erfahren. Einige Monate nach dem Mord an seinem Bruder war er aus der betreuten Wohngemeinschaft in eine eigene Wohnung umgezogen. "Ich wollte meine Ruhe haben und mich mit meinen Freunden treffen können." Daß ihn die rechte Szene aus Neu-Olvenstedt seit dem Tod seines Bruders überall in der Stadt suchte, erfuhr er monatelang nicht. Das änderte sich erst, als er am 30. Dezember gemeinsam mit einem Freund von Skinheads in der Innenstadt gejagt wurde. Peter konnte sich mit dem Freund in ein Schuhgeschäft flüchten, dessen Angestellte die beide Punks durch den Hinterausgang vor den Schlägern in Sicherheit brachten.

Auch wenige Tage später, am Abend des 3. Januar, hatte er noch einmal Glück. Als 13 Naziskinheads die Tür zu seiner Wohnung im Magdeburger Stadtteil Cracau eintraten, war er gerade bei einem Punkkonzert im weit entfernten Erfurt. Weil die Skinheads ihn in der Wohnung nicht antrafen, verprügelten sie Peters Bekannten Gordon G.

Zwei Angreifer hielten ihn fest, vier andere prügelten und traten auf den 23jährigen ein. Gordon überlebte die unzähligen Tritte gegen seinen Kopf und den dreifachen Bruch der Schädeldecke. Einem Freund und einer Freundin, mit denen Gordon gemeinsam in Peters Wohnung gewartet hatte, gelang es, sich durch ein Fenster der im ersten Stock gelegenen Wohnung zu flüchten. Ein 17jähriges Mädchen wurde von den Angreifern festgehalten und mußte zusehen, wie Gordon zusammengeschlagen wurde. "Wir kommen wieder! Und wenn wir Peter Böttcher finden, ist er dran", drohten ihr die Skinheads an, bevor die von einer Nachbarin alarmierte Polizei eintraf. Da waren die Angreifer schon längst geflohen.

Als Peter am Abend des Überfalls nach Mitternacht in seine Wohnung zurückkehrte, glaubte er zunächst, bei ihm sei eingebrochen worden. Weil die Wohnungstür sich nicht mehr öffnen ließ, machte sich gemeinsam mit einem Freund auf die Suche nach Werkzeug. Dabei fiel ihm in der Nähe des Hauses ein ziviler Polizeiwagen auf. "Wir sind zu den Polizisten hingegangen, um Anzeige zu erstatten. Die Beamten haben mich dann mitgenommen und mir erst auf der Polizeiwache erzählt, daß es einen Angriff auf meine Wohnung gegeben hatte", sagt Peter. "Außerdem sagten mir die Polizisten, daß ich nichts unternehmen solle." Seine Bitte nach Polizeischutz für sich und die anderen Opfer hätten die Polizisten mit der Begründung "Personalmangel" abgelehnt.

Statt dessen brachten ihn die Polizeibeamten wieder in seine Wohnung zurück. Dort erhielt Peter am nächsten Vormittag Besuch von einer Vertreterin der Wohungsbaugesellschaft, die ihm die Kündigung für seine Wohnung überreichte. "Weil sich die Nachbarinnen über uns beschwert hätten." Bevor er das Haus endgültig verließ, mußte Peter noch die beim Überfall zerbrochenen Fensterscheiben im Garten wegräumen. "Dann bin ich zum Jugendamt gegangen, um dort um Hilfe zu bitten." Inzwischen mußte die Wohnungsbaugesellschaft die Kündigung wieder zurücknehmen. Doch in seine Wohnung konnte und wollte Peter nicht mehr zurückkehren.

Die Angreifer hatten von Peter Böttchers Wohnort erfahren, weil eine ältere Nachbarin sich bei ihrer Verwandtschaft über die laute Musik aus seiner Wohnung beschwert hatte. Ihr 20jähriger Enkel sammelte daraufhin seine rechten Freunde aus Neu-Olvenstedt und plante mit ihnen den Überfall. Mittlerweile sitzen zwei 20jährige Skinheads, darunter ein ehemaliger Panzergrenadier der Bundeswehr, in Untersuchungshaft; zwei 16jährige Angreifer wurden in einem geschlossenen Heim untergebracht. Die restlichen neun am Überfall beteiligten Skinheads befinden sich wieder auf freiem Fuß.

Seit dem Überfall trauen sich Peter, Gordon, Mary und ihre Freunde kaum noch, nach Einbruch der Dunkelheit alleine auf die Straße zu gehen, aus Angst, an ihren bunten Haaren, den zerrissenen Hosen oder dem Kapuzenpullover als Punks - oder, wie die Rechten spotten, "Zecken" - erkannt und verprügelt zu werden. "Es gibt keinen Ort, an dem ich mich wirklich sicher fühle", sagt Peter Böttcher. Der Grund für den Angriff auf seine Wohnung ist für ihn offensichtlich: "Nach dem Mord an Frank im Februar vor einem Jahr war ich der einzige, der sofort öffentlich gesagt hat, daß Frank von Rechten umgebracht wurde."

Die Drohung der Skins, ihn so lange zu jagen, bis sie ihn finden, nimmt er ernst. "Als ich Gordon im Krankenhaus besucht habe, habe ich nur gedacht: Der hat die Prügel für mich bezogen." Der Punk mit den schmalen Schultern ist erst einmal "untergetaucht". Er versteckt sich vor den Rechten, aber auch vor den Kameras und Mikrofonen der Journalisten. Daß er trotzdem bereit ist, von seinem Leben zu erzählen, begründet er damit, daß "das Reden mir hilft, die Ereignisse zu verarbeiten".

Wie es jetzt weitergehen soll, weiß Peter nicht so genau. "Innerlich will ich auf jeden Fall Punk bleiben. Aber äußerlich muß ich mich vielleicht verändern." Am liebsten würde Peter Magdeburg verlassen und irgendwo seinen Hauptschulabschluß ablegen. "Aber damit muß ich bis zum Ende meiner Lehre warten." Außerdem kann er sich "eigentlich nicht vorstellen, daß es woanders wirklich besser sein kann". Besser, das bedeutet für Peter vor allem: "Daß wir endlich als Menschen akzeptiert werden."

Ein Wunsch, der sich nicht zu erfüllen scheint. In den zwei Wochen, die seit dem Überfall in Peter Böttchers Wohnung vergangen sind, wurden in Magdeburg zwei weitere Punks von Rechten angegriffen. Der eine erlitt schwere Augenverletzungen, als ihm zwei Skinheads mit einer Gaspistole ins Gesicht schossen; eine 17jährige wurde auf dem Nachhauseweg vom Fahrrad gezerrt und schwer verletzt.

Zur Erinnerung an Frank Böttcher finden in dieser Woche in Magdeburg Gedenkveranstaltungen statt