Die Körperbaustelle

Metamorphosen einer Domina, standfeste Schwänze, fragile Identitäten. Die Berlinale-Filme von Monika Treut, Jochen Hick und Bruce Sweeney

"Dein Körper, die ewige Baustelle" oder "Anleitung zum Leben in der Zentrifuge" würden sich als Sammeltitel dieser drei Filme anbieten, bei denen es eigentlich vorrangig um Sex geht. Aber natürlich ist Sex-Haben nicht so einfach, schon gar nicht, wenn man es nicht zum Beruf macht: Ob die Wandlungen der Eva Norvind von der nordischen Sexbombe in Mexiko über die toughe S/M-Domina zur Kriminologiestudentin mit Helferinnensyndrom in Monika Treuts "Didn't Do It For Love", die Geschichten der acht Sexarbeiter in Hollywood von Jochen Hick ("Sex/Life in L.A.") oder die Alltagstranigkeit der vier Kanadier in "Dirty" von Bruce Sweeney - alle zeigen sie die Versuche von Leuten, in einer fragmentarisierenden, urbanen Umgebung zwischen romantischen Lebensentwürfen und straighten Imageanforderungen Identität herzustellen.

In allen Filmen bleiben diese Versuche auf den Körper fixiert, ganz egal, ob die alternde, dominante Hippie-Mum in "Dirty" ihre Biker-Braut-Figur durch pausenloses Rauchen hält, oder sich die acht Stricher und Porno-Darsteller in L.A. im täglichen Bodybuilding perfektionieren. Bei Eva Norvind ist es die Sexbomben-Oberfläche, die sie im Bikini durch Mexiko City trägt, oder die Fetisch-Klamotten, in denen sie Masochisten und Masochistinnen im Studio behandelt. Ohne Visitenkarte geht gar nichts, außer man hat einen anerkannt wichtigen Job oder ist ein Mann im heterosexuellen Kontext wie in "Dirty".

Von romantischen Liebesmythen ziemlich unbehelligt agieren die Santa Monica-Hustler bei Hick, denn bis auf Tony Ward, dem Herb Ritts-Modell und Ex-Geliebten von Madonna, gilt das Interesse der Jungs vor allem ihrem Bizeps und der Standfestigkeit ihrer Schwänze. Nur Tony, der in Bruce la Bruces "Hustler White" - worin derselbe Themenkomplex deutlich spannender, witziger und besser bearbeitet wurde - die Starrolle des Strichers und Porn-Modells spielt, hat sich seitdem zum sehnsüchtigen Romantiker entwickelt. Mantra-artig, mit drogenbedingt kurzen Konzentrationsphasen, sitzt er in der Badewanne, holt sich einen runter und spricht davon, daß er sich und seinen Körper von nun an bewahren wolle, bis er die Person seiner Träume trifft, während Kevin Kramer, Post-Pornstar und jetziger Callboy höchstens mal wegen eines schwanzlosen Abends heulend ins Bett geht. Man merkt sofort, wer sich in einer Umgebung, in der perfekte Einzelteile zählen, durch die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit unglücklich macht.

In "Dirty" begehen alle diesen Fehler. Die zwanghafte Konsumentin Nancy mit libidinösen Freßattacken, die ketterauchende Privat-Domina Mam Rebecca mit ihrer unentschiedenen Affäre zu David, einem muffeligen, verqueren Dauerloser, der zufällig mit Tony, dem nervigen, langsamdenken Holzarbeiter zusammen wohnt. Alle quälen sich mit ihrem Verlangen, und keine und keiner kann sich die Sehnsüchte auch nur annähernd erfüllen. David will es von Rebecca auf den Arsch, Tony will es von der gruftigen Sears-Verkäuferin, leckt dann aber ersatzweise seine Mitarbeiterin in der Holzfabrik während der Pause. Rebecca kann sich nicht entscheiden, ob ihr Sex-Drive oder ihre Midlifecrisis stärker ist und schmeißt David mal aus dem Haus, schluchzt ihm mal nachts als Telefon-Sex-Nummer in den Hörer.

So weit, so langweilig, wäre da nicht diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen der eigenen Imageherstellung und den Erwartungen an das Gegenüber und der offensichtlichen Unvereinbarkeit mit den Vorstellungen der andern. Reden wird zur Unmöglichkeit, weil man nicht nur selbst ein eintöniges Leben führt, sondern nicht auch noch mit den Eintönigkeiten des andern belastet werden will.

Was in Jochen Hicks L.A. schon längst als Zumutung begriffen wird, nämlich die Erwartung, jemand habe Interesse an einer andern Person als ganzer, gilt auch in Bruce Sweeneys Vancouver, nur scheinen sie dort weniger therapiebesessen zu sein als in Kalifornien, wo jedem klar ist, daß man mit Problemen zum Analytiker und nicht zu Freunden geht.

Für die Jungs in L.A. ergeben sich über die Selbstherstellung nach Trendvorlagen Gesprächsthemen, die die imaginäre Gruppe von Sex-Stars zusammenhält. Nur, wenn das einem nicht reicht, wenn einer mehr will, muß er entweder Drogen nehmen, depressiv werden oder auf Jesus Christus als optimale Imagevorlage zurückgreifen.

Im Gegensatz zu Hicks "Sex/Life in L.A." gibt es in Monika Treuts Dokumentarfilm "Didn't Do It For Love" eine Reflexionsebene, die zwar nicht explizit, aber implizit darauf verweist, daß das Nachstellen von fremdbestimmte Wunschträumen nicht unbedingt Erfüllung garantiert.

Dabei ist Eva Norvind, die Protagonistin des Films, eigentlich die Perfektion dieser fragmentierten Erfüllungsmaschinerie. Eva, die in den sechziger Jahren als Minderjährige alleine nach Mexiko fährt, eigentlich um Spanisch zu lernen, erzählt rückblickend, wie sie unvorbereitet und fast arglos über Nacht zur Erfolgsnummer wurde: die nordische Sexbombe, die in zahlreichen mexikanischen Filmen, Cabaret-Shows und Schönheitswettbewerben inszeniert wurde. Wobei sich Eva Norvind aka. Ava Taurel nie als Opfer begreift, höchstens als eine, die von der Geschwindigkeit und Dynamik der Ereignisse überwältigt wird.

Das schien sich zu ändern, als sie von Mexiko nach New York zurückkehrt war, um dort ein Domina-Studio zu eröffnen. Im Film erzählt die Frau, die heute zu Kauf- und Freßsucht neigt, es sei ihr damals darum gegangen zu dominieren. Im Unterschied zur Situation in Mexiko, wo sie als Objekt vor der Kamera oder als heimliche Geliebte von Polit-Prominenz erst "erschaffen" wird, stellt sie sich als Domina selbst her, indem sie sich perfekt als Ava Taurel inszeniert.

Womit sich der Kreis schließt. Diejenigen, die wie in "Dirty" einem romantischen Ideal von Liebe nachhängen in einer Umwelt, die sie sich selbst als Fragmente, als Teilbereiche erschaffen, mühen sich und kriegen schließlich nicht einmal Sex ab. Die, deren Alltag auf die Optimierung ihrer Einzelteile fixiert ist, haben Sex - und sonst gar nichts. Lediglich bei Eva ist das anders, weil sie all die Aspekte ihrer Person und Rolle zwar konsequent lebt, sich aber immer nur phasenweise auf einen dieser Aspekte bezieht und dennoch immer mit mehreren Inszenierungen ihrer selbst gleichzeitig zu tun hat. Daß sie darüber manchmal trotzdem verzweifelt, und, wie sie sagt, sich selbst verliert, hat wohl mehr mit irgendwelchen Mutter-Tochter-Problemen, Wahrheitsfindungsforderungen oder Helferinnensyndrom zu tun als mit einem nur scheinbar chaotischen Lebensentwurf.