Erdbeerlimo, bitter

Die interessantesten Filme der Berlinale erzählen vom Scheitern ihrer Helden

Von generellem Pessimismus über den Zustand der Gesellschaft, die nachlassende Kommunikation und zunehmende Gewalt sind viele und insbesondere die interessantesten Filme der diesjährigen Berlinale geprägt - was nicht heißt, daß der Kinobesuch künftig zur Erzeugung von Depressionen dienen muß. Robert Altman hat John Grisham verfilmt: "The Gingerbread Man". Im Mittelpunkt Anwalt Magruder (Kenneth Branagh), der gerade seinen jüngsten Erfolg gefeiert hat - Freispruch eines des Polizistenmordes Angeklagten -, als er auf dem Nachhauseweg der fluchenden Mallory Doss (Embeth Davidtz) auf der Straße begegnet. Statt den Flirt mit seiner attraktiven Kollegin Lois Harlan (Daryl Hannah) fortzusetzen, fühlt er sich plötzlich angezogen von Mallorys scheinbar so einfacher Welt, deren dunkle Unterströmungen aber sehr bald spürbar werden. Sie erzählt ihm, wie ihr Vater sie in der Kindheit gerne mit dem Märchen vom Pfefferkuchen-Mann erschreckt hat - eine Figur, die clever ist, sich nichts gefallen läßt, wegläuft, aber am Ende doch vom Fuchs gefressen wird.

Unübersichtlich wird die Situation, als eine Gruppe hinterwäldlerischer Fundamentalisten im Penner-Outfit Dixon Doss (Robert Duval) aus der geschlossenen Psychiatrie, in die Magruder ihn hatte einweisen lassen, befreit und bald darauf Magruders bei seiner geschiedenen Frau Leeanne (Famke Janssen) lebenden Kinder entführt werden. Dies läßt nicht nur den nachehelichen Krieg wieder aufleben, sondern wirft den Anwalt endgültig aus der Bahn, Magruders Handlungen werden irrational. Sein Handy, das er noch einige Male gut gebrauchen könnte, wirft er bei einem Tankstopp in den Gepäckanhänger eines anderen Wagens.

Gemeinsam mit seinem Kameramann Changwei Gu, dessen Blick auf den Süden der USA gleichzeitig typisch und doch ein anderer ist, schafft Altman eine einzigartige Atmosphäre für die Entfaltung der undurchsichtigen Intrige, die den Erfolgsanwalt am Ende froh sein läßt, daß nicht er selbst ins Gefängnis wandert. Mit Sicherheit ist es die beste Grisham-Verfilmung und perfektes Kino; aber viel sympathischer ist der vor dem Hintergrund des Clinton-Lewinsky-Falls hochaktuelle Film "Wag the Dog".

Regisseur Barry Levinson erzählt in seiner absurden Komödie die Geschichte eines großen Bluffs und inszeniert die Inszenierung einer Inszenierung. Elf Tage vor der US-Präsidentenwahl wird Spezialist Conrad Brean (Robert de Niro) eingeschaltet, als der Vorwurf laut wird, der Präsident habe eine Praktikantin sexuell belästigt. Um seine Wiederwahl nicht zu gefährden, tüftelt der Medienprofi Brean eine Ablenkungsstrategie aus. Mit Hilfe des Filmproduzenten Stanley Motss (Dustin Hoffman) wird ein Bedrohungsszenario entworfen: Nach diesem Script gefährdet eine Gruppe albanischer Terroristen die Sicherheit der USA, die kurzentschlossen Krieg gegen Albanien führen - allerdings nur in den Medien: Alle veröffentlichten Bilder sind authentisches Studiomaterial. Problematisch wird es, weil der Produzent auch bei dieser streng geheimen Sache Credits verlangt - er erleidet plötzlich einen tödlichen Herzinfarkt, während die Darstellerin des albanischen Flüchtlings-Teenies so klug ist zu begreifen, daß sie diesen Job besser nicht in ihren Lebenslauf hineinschreibt. "Wag the Dog" wurde von den Autoren Hillary Henkin und David Mamet mit einer raren Qualität ausgestattet - starken Dialogen.

Gegen solch hervorragende und erfahrene Akteure wie De Niro und Hoffman hat es Anne Heche in ihrer Rolle Top-Präsidentenberaterin Winifred Ames nicht ganz leicht. Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem Vorgehen beider Herren wird im Film nur zaghaft angedeutet.

Während Levinson nicht zuletzt durch sein Timing überzeugt, gelingt es Quentin Tarantino mit "Jacky Brown" ein Mal mehr, eine Geschichte, die gut und gerne in 80 Minuten abgehandelt sein könnte, auf zweieinhalb Stunden zu dehnen, und zwar, ohne Langeweile zu erzeugen. Die überzogene Gewalt und Hysterie des völlig überschätzten "Pulp Fiction" fehlt in dieser Story, die erstmals nicht vom Regisseur selbst stammt, sondern Elmore Leonards Roman "Rum Punch" zur Vorlage hat. Im Buch ist die Hauptfigur, eine Stewardess, eine Weiße, aber für seine Hauptdarstellerin Pam Grier, den Star vieler Blaxploitation-Filme der Siebziger, änderte Tarantino die Hautfarbe der Heldin.

Ihren Job bei der TWA hat Jackie verloren, als ihre Nebentätigkeit als Geldkurierin aufflog. Bei einer kleinen Company untergekommen, kann sie trotz Bewährungsstrafe am Schmuggeln immer noch nichts Schlechtes finden, zumal ihr lausiges Gehalt eine Aufbesserung gut vertragen kann. Das sehen die Gesetzeshüter anders: Als sie aus Mexiko kommend mit 50 000 Dollar erwischt wird, zwingt man sie zu einem Deal, um an ihre Auftraggeber heranzukommen. Aber warum eigentlich soll sie das Geld den Bullen überlassen?

Jackie entschließt sich, endlich ihr eigenes risikoreiches Spiel zu spielen, und irgendwo zwischen den vielen Dollarscheinen bleibt eine Liebesgeschichte stecken - für Jackie Brown und ihren Co-Mastermind Max Cherry (Robert Forster) gibt es keine Zukunft.

Pam Grier, die als Ikone weiblicher Power gilt, weil sie das Frauenbild Hollywoods nachhaltig verunsichert hat und von der Nelson George schrieb, sie zähle zu den ganz wenigen Frauen, für die im amerikanischen Film Rollen entwickelt wurden, die neben der physischen Schönheit vor allem die Fähigkeit herausstellen, die Vormachtstellung der Männer ernsthaft in Frage zu stellen, ist wahrhaft die Traumbesetzung für diese Rolle. Allein für Pam Grier lohnt es sich auch für die, die Tarantino wenig abgewinnen können, ins Kino zu gehen.

Auch Neil Jordan hat für seinen neuen Film einen Roman adaptiert - "Der Schlächterbursche" des Iren Patrick McCabe. Der Schlächterjunge Francie Bradie (Eamonn Owens) wächst zur Zeit von Kubakrise und John-Wayne-Western in einem kleinen irischen Ort auf. Am liebsten verzieht er sich mit seinem Freund Joe (Alan Boyle) in ein Baumhaus am Fluß oder schikaniert Phillip, Söhnchen der verhaßten Mrs. Nugent, die ihre Verachtung gegenüber Francie und seiner Familie nur zu deutlich macht.

Die Familie ist in der Tat keine zum Vorzeigen: der Vater (Stephen Rea) hat sein musikalisches Talent längst versoffen, die Mutter (Aisling O'Sullivan) ist verwirrt. Nachdem Francis sich mit dem "Schweineweg-Zoll" nicht gegen Mrs. Nugent durchsetzen kann, bricht er in deren Haus ein und landet in der Besserungsanstalt. Dort avanciert er zwar zum Meßdiener und sorgt für die Versetzung eines pädophilen Paters, aber wieder findet sich niemand, der seinem ungestümen Temperament gewachsen ist. Nach seiner Rückkehr muß er die Drecksarbeit im örtlichen Schlachthaus erledigen, sein Freund Joe hat sich längst dem gesellschaftlich akzeptableren Phillip zugewandt und will von Francis nichts mehr wissen, und als kurz nach dem Tod der Mutter auch noch der Vater stirbt, kommt es zur Katastrophe. Auch der Viele-Jahre-später-Filmschluß - ein rothaariger Stephen Rea als erwachsener Francie - bietet keine Ablenkung vom radikalen Pessimismus dieses Films.

Nicht weniger eindrucksvoll scheitert Amok Kolleks Titelheldin in "Sue". Aus der Provinz nach New York gekommen, lebt Sue, knapp über 30, als Single in einem kleinen Appartement in Manhattan. Ein paar zufällige Begegnungen in Bars oder Waschsalons, ab und zu mal Sex sind Höhepunkte ihres trostlosen Lebens. Schwierig wird es, als sie ihren Bürojob verliert und mit der Miete in Rückstand gerät. Ihre Kommunikationsversuche werden verzweifelter, gleichzeitig aber auch ihre Fähigkeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen, geringer. Die Idee zu diesem Film über Entfremdung und Verzweiflung in Großstädten kam Amos Kollek, als er auf einer Parkbank sah, wie eine junge Frau ihre Brüste für einen alten Mann entblößte, der ihr eine Erdbeerlimo gekauft hatte.

Auf der Straße begegnet Sue, einfühlsam gespielt von Anne Thomson ("Unforgiven", "I Shot Andy Warhol") , noch einmal Ben, der tagelang nach ihr gesucht hat. Daß sie die Verabredung mit ihm nicht einhalten wird, ist schon klar, als beide das Treffen vereinbaren. Statt dessen kehrt sie zu der Parkbank zurück, auf der sie vor Wochen - zu Beginn des Films - den Obdachlosen Willie kennengelernt hatte; sie setzt sich nieder, läßt ihren Kopf zur Seite kippen. Ob das Schlußbild ihren Tod oder nur Schlafen bedeutet, ist gleichgültig geworden.