Kein Kuß, kein Schluß

Wie findet man auf der Berlinale in den Artikeln und Pressetexten zu mehreren hundert Filmen genau diejenigen, die einem gefallen? Man muß lernen, die kurzen Texte über die Filme wie einen Urlaubsprospekt zu lesen und zu entschlüsseln.

"Poetische Bildsprache" bedeutet in der Regel: Lange Einstellungen, wenn man Pech hat, auf karge Landschaften, kaum Dialoge, wenig Handlung. "Ambitioniertheit" ist ein ähnlich schlechtes Zeichen wie die Phrase "Hat sich stets bemüht" in einem Arbeitszeugnis. "Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema bleibt unbefriedigend" bedeutet, daß z.B. in einem Film über Gewalt sehr viel Gewalt vorkommt, aber der Regisseur dachte, daß der Kritiker selbst nachdenken kann. Das war blöd von ihm, denn der Kritiker erwartet vom Regisseur, daß der ihm Lösungen liefert, die leicht auf 50 Zeilen zu bringen sind. "Sinnhaftigkeit" liegt dagegen dann vor, wenn der Regisseur angetreten ist, die großen Fragen des Lebens zu lösen, indem er von sich selbst erzählt. Die "detailgenaue Zeichnung der Hauptfiguren" warnt vor elend lange ausgewalzten Mono- bzw. Dialogen, in denen manchmal zusätzlich "Momente emotionaler Wahrheit" entstehen. Das bedeutet, daß die Hauptdarsteller ständig andere Leute anschreien oder Nervenzusammenbrüche erleiden.

Diese Faustregeln sind allerdings nicht verläßlich, denn sie sind auch denen bekannt, die ein Interesse daran haben, Menschen in Filme zu locken, die sie nicht sehen wollen.

Auf der Berlinale passierte das z.B. mit dem Panoramabeitrag "Polish Wedding", dessen Beschreibung recht unverdächtig klang. Und dann das: Mit schwer kitschigen Untertönen wird in dem Fünfziger-Jahre-Einwandererfilm eine schwulstige Arie auf den edlen Proletarier angestimmt und das Hohelied auf Großfamilie und Kinderkriegen gesungen, so als hätte der Papst höchstpersönlich dem Drehbuch seinen Segen erteilt.

"Junk Food", der im Forum gezeigt wird, wurde als "exzentrisches Panorama der Außenseiter und Verirrten im nächtlichen Tokio" angekündigt und zu sehen war: ein exzentrisches Panorama der Außenseiter und Verirrten im nächtlichen Tokio. Ebenso interessant, was in anderen Ländern zum Publikumserfolg wurde: In Brasilien war es "Guerra du canudos" ("Die Schlacht von Canudos"), ein 160 Minuten langes Drama um eine der größten Schlachten der brasilianischen Geschichte, die Ende des 19. Jahrhunderts zwischen Regierungstruppen und der Sekte der Sebastianisten stattfand. Gestorben wird auch in dem israelischen Film "The 92 Minutes of Mister Braun", Assi Dayans im Panorama präsentierte Komödie über das Wissen um den bevorstehenden Tod, die zwischen Melancholie und Groteske hin- und herschwankt und in dem Satz gipfelt: "Life is a bitch. And then you die!" Der spanische Regisseur Alejandro Amenabar, der vor zwei Jahren auf der Berlinale seinen Film "Tesis" vorstellte, ist in diesem Jahr im Panorama mit "Abre los Ojos" ("Mach die Augen auf"), einem außergewöhnlichen Psychothriller - eigentlich galt das Genre als ziemlich ausgelutscht - vertreten. Der junge Cesar, ein erfolgsverwöhnter Egoist, ist in der Psychatrie gelandet. Wie er dort hingekommen ist, wird in einer komplexen Story erzählt, deren Traum-im-Traum-Sequenzen deutlich Anleihen bei Philip K. Dick und Bu-uel nehmen.

Und auch im Wettbewerb hat man sich in diesem Jahr deutlich Mühe gegeben, Filme auszuwählen, die man von der früher eher lahmen Veranstaltung nicht erwartet. Einer ist "The Big Lebowski" von Joel und Ethan Coen, die zuvor schon mit "Barton Fink" und "Fargo" erfolgreich waren. Ähnlich enthusiastisch wie Musikjournalisten, die alle halbe Jahre verkünden: "Ich habe die Zukunft des Rock'n'Roll gesehen" reagierten die Kritiker bisher auf jeden neuen Film der Coen-Brüder. Und die haben in ihrem Wettbewerbsbeitrag tatsächlich etwas Neues getan, sie haben sich um das Filmende verdient gemacht. Filme zu beenden gehört wohl zum Schwierigsten, und immer wieder wird ein guter Film durch ein mieses Ende verhunzt. "The Big Lebowski", die Story vom mittelalten Herumhänger Duke, der zusammen mit seinen Bowlingkumpels in eine Entführungsgeschichte hineingezogen wird, endet hingegen nicht einfach so, wie Filme halt immer enden, nämlich mit einem Kuß, vielen Toten oder einem gewichtigen Abschlußsatz. "The Big Lebowski" verläppert einfach.