Passionsspiele am Kudamm

Klaus Michael Grüber inszeniert Goethes "Iphigenie auf Tauris" in der Berliner Schaubühne

Gibt's Goethe im Theater, wird es hoch und hehr und hübsch heilig, zumal bei "Iphigenie auf Tauris", dieser, wie man sagen könnte, 9. Symphonie der Sprechbühne. Da kämpft der Mythos mit dem Rationalismus, es rennt altes Gesetz gegen neuen Humanismus an, und am Schluß ist die Welt klassisch sauber: "Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit." Eben diese "Iphigenie" hat nun an der Berliner Schaubühne, der Kathedrale buchstabengetreuer Textexegese, Klaus Michael Grüber inszeniert.

Trotz des langjährigen und bewährten Qualitätsgaranten des angeschlagenen Hauses drängt sich alsbald die Frage auf, was daran noch Goethes Schauspiel ist, und was schon Kudamm-Passionsspiel. Die Bühne ist breit aufgerissen und durch einen niedrigen Rundhorizont begrenzt. Davor steht die übliche Trümmer-Klassik herum, ein geduckter Tempel, ein paar Säulenstümpfe. Ruinencharme auf weißem Meeresstrand, den parallel zur Rampe ein Wasserbassin säumt. Die Wellenmaschine bestimmt hier Goethes Versmaß und klatscht munter Flüssigkeit in die Zäsuren. Unverkennbar griechisch-arkadisch sind die Darsteller eingekleidet und schreiten in bodenlangen Woll- und Leinenkutten gemessen über Muscheln und Treibholz (Bühne: Gilles Aillaud, Kostüme: Susanne Raschig). Der Ausflug ins Theatermuseum führt auf die Insel Tauris, die heute Krim heißt.

Iphigenie, die als Menschenopfer für das trojanische Kriegsglück ihres Vaters Agamemnon schon bratfertig auf dem Altar lag, wurde von der Göttin Diana heimlich gerettet und auf Tauris deponiert. Niemand weiß von ihrem Überleben, so nimmt die Kette der Gewalttaten kein Ende. Agamemnon wird von seiner Frau Klytämnestra nach der Heimkehr umgebracht, weil sie ihm das Tochteropfer nicht verzeihen kann. Worauf der Sohn Orest die Mutter tötet, weil diese den Vater getötet hat. Auf Tauris wird auch gern geschlachtet, jedoch bricht König Thoas selbst das Landesgesetz "Killt alle Fremden", als er die zugereiste Iphigenie am Leben läßt. Und verzeiht sogar, daß sie ihm einen Korb gibt. Gewährt ihr samt Bruder Orest und Freund Pylades, die inzwischen in Tauris gestrandet sind, unbehelligte Heimkehr. Am Ende löst sich der klassische Dreier in "Alle Menschen werden Brüder"-Wohlgefallen auf. Aber die griechischen Mythen haben nicht nur eine Wahrheit. Die raffinierte Abweisung jeder Ideologie haben sie für fortwährende Neubearbeitungen so interessant gemacht. Bis hin zu Goethe, der die Geschichte im Geist der Aufklärung interpretierte. Mit wohltemperiertem Ebenmaß erzählt er von den zwei Erben, die unter der Last der Verbrechen ihrer Eltern fast zugrunde gehen, und bringt sie durch den Horizont der blutrünstigen Antike heim in den frisch renovierten Musentempel Weimar.

"Das Land der Griechen mit der Seele suchend", Iphigenies verborgene Sehnsucht im Exil, ist das Leitmotiv in Grübers Inszenierung. Und da über die Seele niemand so recht Bescheid weiß, werden konkrete Aussagen schwierig und es passiert praktisch nichts, abgesehen von rigidem Dastehen und erhabenem Deklamieren.

Einmal wird es hitzig - Thoas (Ulrich Wildgruber) und Orest (Martin Wuttke) kreuzen die Schwerter - aber gleich geht Iphigenie (Angela Winkler) dazwischen. Einmal wird es laut, da beweint sie niedersinkend das Schicksal ihrer Familie. Und einmal wird es wirklich rührend, als sich der lebensüberdrüssige Orest hinunter ins Wasser und hinüber ins Jenseits phantasiert: "Zu euch, ihr Schatten, in die ew'gen Nebel." Die Aufführung kommt mit zwei andächtigen Stunden aus. Sie hat große Ruhe und Konzentration. In ihrer hermetischen Kargheit könnte sie ein Fanal gegen Reizüberflutung und sonstige Gehirnwäsche sein, begnügte sich Grüber nicht mit einem einschläfernden Idyll, in dem gläubig Goethe gebetet wird. Niemand würde sich wundern, gingen die Schauspieler nicht nur über den Sand, sondern gleich noch übers Wasser und zurück. Die Tag- und Nachtzeiten wechseln schnell und impressionistisch weich, was sehr hübsch aussieht und sehr wenig veranschaulicht. Die Inszenierung gelangt über die Textebene nicht hinaus, dabei könnte die Sicht von den Regie-Hügeln herab durchaus eindrucksvoll sein. Aber an der Schaubühne gehen die Uhren sowieso anders.

Die Premiere wurde, was im Theateralltag reichlich ungewöhnlich ist, vorverlegt. Und zwar ausgerechnet auf den 100. Geburtstag Bertolt Brechts, dem "Glotzt nicht so romantisch"-Kontrahenten vom Schiffbauerdamm. Komisch, nicht? Mit Goethe gegen Brecht, und im Namen der Aufklärung zurück in die Zukunft: "Ich untersuche nicht, ich fühle nur", sagt Iphigenie. Aber das ist auch schon wieder gut zweihundert Jahre her.

Johann Wolfgang Goethe: "Iphigenie auf Tauris". Regie: Klaus Michael Grüber. Bühne: Gilles Aillaud. Kostüme: Susanne Raschig. Mit Angela Winkler, Ulrich Wildgruber, Martin Wuttke, Sylvester Groth, Wolf Redl Schaubühne am Lehniner Platz, Kudamm 153, Berlin. Weitere Vorstellungen: 20., 21., 22. und 28. Februar