Punto Final und kein Ende

Argentiniens Opposition blamiert sich mit einem Rückzieher bei der Verfolgung von Verbrechen der Militärdiktatur

Nachdem eine Parlamentsdebatte zwischen der peronistischen Regierung und der Opposition in eine groteske Komödie ausgeartet ist, versucht Argentiniens politische Klasse nun, mühsam den Schaden zu reparieren. Dabei war der Anlaß der Debatte durchaus ernst: Es sollte über die Rücknahme und die Ungültigkeit der Gesetze zur Straffreiheit für die unter dem Militärregime von 1976 bis 1983 begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit entschieden werden.

Mittlerweile haben Menschenrechtsorganisationen wie die Madres de la Plaza de Mayo die Abgeordneten aller Fraktionen gleichermaßen für "ihre opportunistische und unverantwortliche Haltung" verurteilt. Umfragen zufolge stehen mittlerweile über zwei Drittel der Bevölkerung hinter den Madres und befürworten die Rücknahme der Amnestiegesetze und die Strafverfolgung der verantwortlichen Militärs. Vor allem die Allianz aus der Radikalen Union (UCR) des Ex-Präsidenten Raœl Alfonsin und dem Mitte-Links-Bündnis Frepaso, in dessen Reihen der Gesetzesantrag zur Rücknahme der Amnestie zunächst erarbeitet worden war, hat sich nach ihrem Einknicken in einer bislang zentralen Frage oppositioneller Politik blamiert.

Nach der Tragödie des Malwinen-Krieges und der Rückkehr zur Demokratie 1983 unter Alfonsin waren die Mitglieder der Militärjunta, deren Terror über 30 000 Menschenleben gefordert hatte, sowie 1 200 Angehörige von Armee und Polizei erstmals in der an Diktaturen reichen argentinischen Geschichte vor Gericht gestellt und zu teils langen Haftstrafen verurteilt worden. Bereits 1987 jedoch hatte die Administration Alfonsin unter dem Druck wiederholter Aufstände innerhalb der Armee mit den Stimmen von Radikalen und Peronisten die Gesetze zum pflichtmäßigen Gehorsam ("Obediencia Debida") und zum "Schlußpunkt" ("Punto Final") erlassen. Die Folge dieser Gesetze war Straffreiheit für nahezu alle Befehlsränge und die Unzulässigkeit weiterer Strafurteile.

Die in Haft verbliebenen 20 Kommandeure schließlich waren 1989 von dem peronistischen Präsidenten Carlos Menem amnestiert worden, der noch ein Jahr zuvor öffentlich seinen Widerstand gegen jegliche Amnestie für die Verbrechen der Diktatur bekundet hatte.

Anfang Januar nun legte eine Gruppe von Abgeordneten des Frepaso unter Führung des Innenpolitischen Sprechers Juan Pablo Cafiero und des Menschenrechtsexperten und Verfolgten des Militärregimes Alfredo Bravo einen Gesetzesantrag vor, der die Rücknahme und die Ungültigkeit der beiden Gesetze von 1987 sowie die Wiederaufnahme der Verfahren gegen die Verantwortlichen der Diktatur vorsah. Die Gruppe argumentierte, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit laut internationalen Verträgen - deren Gültigkeit der Oberste Gerichtshof Argentiniens bei der Auslieferung der Nazi-Verbrecher Franz Schwammberger und Erich Priebke ausdrücklich anerkannt habe - nicht amnestiert werden können. Deswegen widerspreche das "Punto Final"-Gesetz internationalem Recht.

In ersten Reaktionen zeigten sich Sprecher der Radikalen unangenehm berührt von der "nicht abgesprochenen Initiative", und Ex-Präsident Alfonsin bekundete seine "Überraschung". Spitzenpolitiker des Frepaso wie die ehemalige Menschenrechtspolitikerin Graciela Fern‡ndez Mejide, die auf die Präsidentschaftskandidatur des Oppositionsbündnisses spekuliert, und der Fraktionsvorsitzende Carlos "Chacho" çlvarez erklärten bereits wenige Tage nach dessen Vorlage den Gesetzesentwurf für "augenblicklich nicht opportun". Sie forderten die Abgeordneten auf, sich statt dessen auf den bevorstehenden Machtwechsel zu konzentrieren und "mit dem Blick nach vorn und nicht mit dem Blick zurück zu diskutieren".

In einem teilweise grotesk anmutenden Versuch, sich von der Regierung Menem nicht rechts überholen zu lassen, verurteilten çlvarez und Mejide in den folgenden Tagen den Cafiero-Entwurf als "politisch und juristisch unpraktikabel" und betonten die Notwendigkeit, sich gegenüber dem Ausland als Garanten für Rechtssicherheit zu profilieren. Ex-Präsident Alfonsin begrüßte in der Presse immerhin die Debatte über die Menschenrechtspolitik seiner Regierung und räumte ein, mit "Punto Final" einen politischen Fehler begangen zu haben.

Die nach Wahlniederlagen im vergangenen Jahr angeschlagene Regierung Menem reagierte auf den Cafiero-Entwurf mit einer Doppelstrategie, um die Oppositionsallianz im zentralen Thema Menschenrechte öffentlich vorzuführen. Bereits einen Tag nach Vorlage des Gesetzentwurfs erließ der Präsident ein Dekret, das den Abriß der Marineakademie (ESMA), dem wichtigsten klandestinen Folterzentrum der Diktatur, und an gleicher Stelle die Errichtung eines "Denkmals der nationalen Versöhnung" in Form eines Fahnenmastes vorsieht. Menschenrechtsorganisationen haben mittlerweile eine einstweilige Verfügung gegen das Dekret erreicht, da auf dem Gelände wahrscheinlich zahlreiche Leichen verscharrt wurden. Ein Abriß würde die Aufklärung ihres Schicksals endgültig zunichte machen.

Außerdem berief das von den Peronisten dominierte Parlamentspräsidium noch für die Kongreßferien unter Berufung auf "den Blutzoll der peronistischen Bewegung" eine Sondersitzung zum Cafiero-Entwurf ein. Zugleich aber erklärte der Präsident, daß er im Falle von dessen Verabschiedung sofort sein Veto einlegen werde.

Endgültig zum Skandal gerieten die ungesühnten Verbrechen der Diktatur, nachdem die Zeitschrift Tres Puntos ebenfalls noch im Januar ein langes Interview mit einem ehemaligen Mitglied der ESMA-Entführungsbrigaden, dem Fregattenkapitän Alfredo Astiz, veröffentlichte, der in Frankreich wegen Mordes an den Nonnen Alice Dumon und Léonie Duquet in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt ist.

Astiz bekräftigte darin die Rechtmäßigkeit der Folter und brüstete sich, der bestausgebildete professionelle Killer Argentiniens zu sein. Nachdem ihm das Interview Vorladungen in mehreren Verfahren über Entführungen während der Diktatur beschert hatte, verweigerte Astiz vor Gericht in den meisten Punkten die Aussage, da er sich von der in den Amnestiegesetzen verankerten Straffreiheit geschützt wußte.

Der öffentliche Widerhall der Auftritte Astiz', einer der finstersten Gestalten der staatlichen Repression, führte zu dessen Degradierung von allen militärischen Rängen und zur Verhängung einer Haftstrafe durch ein Disziplinargericht der Marine - jedoch nicht wegen seiner Verbrechen, sondern wegen "Beschädigung des Ansehens der Institution".

Unter dem Eindruck der öffentlichen Reaktion auf die Straflosigkeit Astiz' hatte die Oppositionsallianz am 3. Februar - am Vorabend der anberaumten Sondersitzung - in letzter Minute einen Kompromißentwurf eingereicht. Dieser sieht lediglich die Rücknahme der Amnestiegesetze vor, nicht jedoch, diese nachträglich für unwirksam zu erklären. Damit wäre zwar die Aufnahme neuer Verfahren möglich, bereits Verurteilte blieben jedoch weiterhin im Genuß der Amnestie. Weiterhin fordert der Entwurf die Änderung des Militärkodex, um Angehörige der Streitkräfte künftig zum Widerstand gegen verfassungswidrige Befehle von Vorgesetzten zu verpflichten.

Das peronistische Parlamentspräsidium weigerte sich jedoch, den Kompromißentwurf auf die Tagesordnung zu setzen, auch wenn die Fraktion erklärte, in der Sache ebenfalls für Rücknahme ohne Unwirksamkeit der Gesetze stimmen zu wollen.

Als die Sprecher der Opposition nach stundenlangem Tauziehen in einer Pressekonferenz dennoch ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Sitzung erklärten, entspann sich eine makabre Komödie: Während die Vertreter der Opposition zum Sitzungssaal eilten, erklärte Parlamentspräsident Pierri - der während der Diktatur im Ruf guter Verbindungen zum Marine-Chef Massera stand - die Versammlung für nicht beschlußfähig und verkündete als Antwort auf die lautstarken Proteste der gerade eingetroffenen Abgeordneten eine Schweigeminute für die Opfer der Diktatur. Vor dem Kongreßgebäude empfingen Demonstranten die Volksvertreter mit "Zirkus! Zirkus!"-Rufen, und Laura Bonaparte, eine der prominentesten Madres de la Plaza de Mayo, erklärte voller Empörung: "Sie haben unsere Angehörigen ein zweites Mal umgebracht."

Nach einer Woche gegenseitiger Schuldzuweisungen haben sich Regierung und Opposition, in Reaktion auf die breite öffentliche Mißbilligung des Parlamentstheaters, auf die Einberufung einer weiteren Sitzung am 24. März, dem Jahrestag des Militärputsches, geeinigt. Unklar ist jedoch,

ob in deren Rahmen erneut über den Cafiero-Entwurf abgestimmt oder lediglich eine vage Resolution zum Thema Menschenrechte verabschiedet werden soll.