Surfing Kempowski

Walter Kempowskis TV-Protokollbuch "Bloomsday '97"

"m.S.: (Ö) Ich war damals ja sehr jung und hab' dann sehr schnell gelernt, mich einzuleben, anzupassen, und ich habe sehr bald auch Gefallen gefunden an dieser konfuzianischen Denkweise, die eben ganz anders ist. An viele Dinge geht man ganz anders heran als bei uns in Europa. Und die Anpassung hat es mir auch, glaub' ich, leichtgemacht, mit den Chinesen zurechtzukommen.

m.S.: Herr Gevers, es dauert noch 'n Augenblick, bis es weitergeht!

w.S.: Wenn Sie also dünner werden wollen, nehmen Sie doch einfach ein paar Ö Liter ab!

m.S.: Weniger wiegen durch weniger Wasser. Mit Bio-Fax.

w.S.: Neu von Nivea vital: Mehr Feuchtigkeit für reife Haut. Doppelt soviel Feuchtigkeit. Mit der verbesserten (Ö)"

Das war "Bloomsday '97", Seite 164, zweite Spalte. So geht es Bögen und Bögen lang zu. Dann bricht Walter Kempowski, seit 8 Uhr auf den Beinen, ab. Kein eigenes Wort hat er hinzugefügt. Ein Motto beschließt die Chronik des laufenden Käses: "Sunrise. Bloom goes to bed, waking his wife Molly, who thinks about how much she loves her husband."

Das Projekt ist gigantisch, und doch entbehrt es der Anstrengungen der Komposition. Im Verlaufe eines Tages und einer halben Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1997 "surfte" Kempowski, der bereits mit der Tagebuch-Dokumentation "Echolot" sein Interesse an Berichtsformen unter Beweis stellte, durch sämtliche 37 ihm zugängliche Fernsehkanäle. Während er zappte, bannten Video- und Tonrecorder seine "Bewegungen" über die Oberfläche des Bild- und Wortstroms. Entstanden ist eine "persönliche" Spur, die sich infinit verbreitern ließe, bliebe sie nicht vom äußeren zeitlichen Rahmen begrenzt.

Jene Spur aber verweist auf keinen Urheber, weder auf subjektive Pläne noch auf individuelle Absichten. Der Autor, ehrwürdige Instanz narrativer Macht und Sinnstiftung, verschwindet gänzlich hinter einem Korpus aus Sätzen, Satzfragmenten, Ellipsen, kontextlosen Argumentationen, Kommentaren, Beschreibungen ohne Referenz.

Während literarische Texte zumindest suggerieren, man höre die eine Stimme ihres Schöpfers sprechen, liefen Nachforschungen darüber, was Kempowski intendiert haben könnte, vollends in die Irre. Der Positivismus des Aufzeichnens untergräbt alle semiologischen Funktionen, die gemeinhin der Sprache zuwachsen. Statt zu bezeichnen und zu referieren, statt zu alterieren und Sachverhalte zu benennen, zeigen Zeichen ausschließlich auf sich selbst. Aufzeigen heißt aufzeichnen, würde Norbert Bolz einwerfen, denn das sprachliche Zeichen sei ein Aufmerksamkeit nicht entbergendes, sondern verdeckendes Auf-etwas-Zeigen, ein Auf-sich-selbst-Zeigen, ein Aufzeichnen, keine Kette "tönender" (Wilhelm von Humboldt) Artikulationen und distinkter Gedanken, eher ein Geflecht von Relationen, "weißes Rauschen" (Don DeLillo), knapper: ewigwährendes Geschmarre.

Dort, wo nur Material spricht, schafft sich das Individuum, da es einschaltet und Bänder anlaufen, ab. Sein Rest fällt in tranceähnliche Zustände. Entscheidungen, welches Programm gewählt werden und wie lange man dort verweilen soll, sind bedeutungs-, belanglos. "Das Ich ist unrettbar" (Ernst Mach), es obsiegt die reine Kontingenz. Der Moment der Dezision, Ausweis für Autonomie, nähert sich jenem leeren Begriff der freien Wahl, wie ihn Jean-Paul Sartre postulierte. Herbert Marcuse erblickte im existentialistischen Topos, man aktualisiere immerzu die Möglichkeit eigenmächtiger Entscheidung, egal, was vorausgegangen sei, nicht zu Unrecht "die Parole des totalen Konformismus".

Kempowski reproduziert vermöge seiner klinischen Laborsituation, deren Objekte Produkte von Inszenierung sind, zentrale Defizite einer Subjektphilosophie, die sich der konkreten Umstände begibt, vor deren Hintergrund wir handeln und sprechen. Insofern gleicht sein penibles Experiment über die Auslöschung der Wahrnehmung (wir erfahren nichts über Kempowskis Befinden, fernsehtypische Verrichtungen, dösen, fressen, Wasser abschlagen, mosern, bleiben ausgeblendet) einem genialen Schachzug (Ferdinand de Saussure wählte für das Sprachsystem die Metapher des Schachspiels), mit der Einschränkung, daß die Figuren, die er bewegt resp. sich bewegen läßt, zu jedem Zeitpunkt jede denkbare Beziehung zu jedem denkbaren Element des Feldes eingehen. Signifikation wird total: Der Läufer bedroht zeitgleich sämtliche Figuren des Gegners und steht dabei seinen eigenen im Weg. Die Psychologie kennt für derartige Verhältnisse den Begriff "Beziehungswahn", auch jenen der Paranoia. Die Konfusion ist umfassend, das Universum der Zeichen randvoll und doch vollkommen leer, entropiegefährdet, implodiert, ein Vakuum, was immer.

Die semiotische Blockade setzt sämtliche Regeln außer Kraft. Das angemessene Verfahren, gegenstandslose Signifikationsprozesse nachzuzeichnen, bietet die leidenschaftslose Notation. Sie verdoppelt, was sich selbst permanent verdoppelt. Kempowskis dicke Kladde führt nur noch vor; weder verfremdet noch beschreibt sie, sie ästhetisiert und ordnet nicht, sie wertet und überhöht auch nicht.

Schon die Diarien-Sammlung "Echolot" wollte bloß bezeugen, Sprachspiele zur Sprache bringen. Nun gewandet sich die Kapitulation vor dem Telesound ins Kleid der Hochliteratur. Der Zapper kultiviert den Zufall, die Zerstreuung, die Gedankenlosigkeit, seine testende Haltung gegenüber dem "Scheiß der Zeit" (Henscheid) registriert die Stärke von Reizen. Vorgehen und Resultat erinnern an Bazon Brocks, Bernhard Jägers und Thomas Bayerles Bloom-Zeitung vom 8. April 1963. "Sie haben die Bild-Zeitung nicht angegriffen, sie haben sie wiederholt." (Hans Magnus Enzensberger)

Kempowskis Idee hat etwas Schlagendes. Sein Ordnungsprinzip ist der Time-Code, die Achse, an der entlang sich das Fernsehepos ohne Helden und Katastrophen fortsetzt. Er legt Schnitte, unterbricht den Redeschwall, segmentiert nach Belieben. Bereits Hans Magnus Enzensberger montierte Bild-Texte zu sinnfreien Reihen, doch erst die schiere Masse offenbart, daß wahrscheinlich das Medium Fernsehen längst immun geworden ist gegen den Versuch, seine Strukturen dicht zu beschreiben, seine Funktionen zu decouvrieren und seine immanente Dramaturgie, das plane Nebeneinander und das naturwüchsige Durcheinander, zu konzeptualisieren. Wer mag, kann "Bloomsday '97" als Rätselheft nutzen und Formate, Sendeanstalten, journalistische Formen herauspusseln oder die fehlenden Bilder imaginieren; es ist wurscht.

Die Endlosschleife als der letztmögliche Modus zur Abbildung des omnipräsenten Quarks, die Verschriftung die unspektakulärste und schlüssige Dokumentationstechnik hinsichtlich des so gewöhnlichen und doch weitreichenden Prozesses der Visualisierung und Verbalisierung, an dessen Ende die Schrift, das vorzügliche Medium der Reflexion, verblaßt: Kempowski leistet mehr Medienanalyse als der gescheiteste Fernsehwissenschaftler in irgendeinem Dortmunder Publizistikinstitut. Und wenn er das plappernde Personal beckettartig "männliche Stimme" (m.S.) und "weibliche Stimme" (w.S.) nennt, trifft er den Ton genau: die dramatis personae ein Chor zweier schwallender Kollektivsingulare.

Da will weniger einleuchten, warum sich Kempowski der Aura des "Ulysses" bediente. Auf den erzählten Tag genau 93 Jahre später hebt, so der Klappentext, seine "scharfe Momentaufnahme" an, und die mikroskopische Methode Joyce' wird mehr beschworen denn zur Anwendung gebracht. Nicht monologisiert Molly, das Medium faselt, und es rekrutiert unzählige namenlose Mollys. Womöglich wollte Kempowski durch jene Fallhöhe, die sein konnotationsreicher Rahmen erzeugt, das Fernsehen retten - eine eschatologische Figur, die wir in der literarischen Moderne allenthalben antreffen, wenn dem Nebensächlichen, dem Abfall, dem Schund größtmögliche Aufmerksamkeit widerfährt. Die von Joyce artistisch verwobenen "Umgangssprachlichkeiten" (Friedhelm Rathjen) finden bei Kempowski ihr Pendant in der lückenlosen Dokumentation des Stream of unconciousness, dessen, was geredet wird, und dessen, was der Zuschauer Kempowski tut. Glauben möchten wir trotz solch belehrend wirkender, leicht prätentiöser Analogie kaum, daß uns das Fernsehen jeden Tag wieder frei Haus sein immergleiches und über den immergleichen Themen variiertes Penelope-Kapitel schreibt. Kempowski, der Joyce unserer Zeit und der minutiöse Beobachter "unserer unmittelbaren Gegenwart, ihrer kulturellen, politischen, privaten und öffentlichen Befindlichkeit"?

Und doch vermittelt "Bloomsday '97", dieses konsequent unlesbare Buch in bibliophiler Ausstattung, nicht wenig Trostreiches. Der hoch und höher aufgeschichtete und widerstandslos hingenommene, wuchernde Fernsehdreck strahlt, veredelt zum Text, einen eigentümlich milden Glanz ab, als sei diese Welt wirklich rettungslos verkommen und verloren. Daran könnt' man schon frohen Mutes wahnsinnig werden.

Walter Kempowski: Bloomsday '97. Albrecht Knaus, München 1997, 396 S., DM 59,90