Dieter Schulte

Teilzeit muß etwas Normales werden

Dieter Schulte, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), will, daß sich die Gewerkschaften in den Wahlkampf einmischen. Für einen bestimmten Kandidaten, eine bestimmte Koalition oder eine bestimmte Partei möchte Schulte aber nicht werben. Was will er dann?

Herr Schulte, Sie haben neulich gesagt, Sie hätten nicht schlecht Lust, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzufordern, die Arbeit niederzulegen, Börsen und Banken zu besetzen und so lange besetzt zu halten, bis mindestens eine Million Arbeitsplätze geschaffen sind. Warum geben Sie Ihrer Lust nicht nach?

Weil Politik so nicht funktioniert. Ich werde mich nicht auf das Niveau eines Herrn Henkel begeben, der mit militanten Sprüchen eigentlich nur unter Beweis stellt, daß er der falsche Mann auf dem falschen Posten ist. Wir können die Arbeitslosigkeit nur wirksam bekämpfen, wenn alle gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten. Aber wenn die Arbeitgeber auch weiterhin auf stur schalten und die Vorleistungen der Beschäftigten nicht wie versprochen in neue Jobs umsetzen, dann ist eben Schluß mit unseren Angeboten.

Unternehmerchef Hans-Olaf Henkel schreckt mitlerweile auch vor einem Aufruf zum Gesetzbruch nicht zurück. Warum reagiert der DGB so zahm?

Ich habe mit meiner Meinung nie hinterm Berg gehalten: Das Problem ist, daß viele von Henkels Unternehmerkollegen mit ihm konform gehen. Er steht für diejenigen, die unser Land nur noch zum Spielplatz für ihre Globalisierungsträume machen wollen. Darin zählt der Aktienkurs alles, der Mensch nichts.

Demnächst findet der DGB-Bundeskongreß statt. Was steht auf der Tagesordnung?

Dieser Kongreß hat einen besonderen Stellenwert, denn er findet drei Monate vor der Bundestagswahl statt. Wir werden das zum Anlaß nehmen, unsere Forderungen an eine andere Politik deutlich zu machen. Schon ab Mitte April wird unsere Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit beginnen. Auf dem Kongreß werden wir nicht nur über die eigene Politik der kommenden vier Jahre beraten, sondern auch intensiv mit den Kanzlerkandidaten diskutieren.

Heißt "andere Politik", Sie setzen auf die SPD? Noch ist nicht geklärt, ob Gerhard Schröder oder Oskar Lafontaine Kanzlerkanditat wird. Zwischen beiden müssen für Sie doch politische Welten liegen?

Wir werben als Deutscher Gewerkschaftsbund nicht für eine Person, eine Partei oder eine bestimmte Koalition. Wir werben für einen Wechsel in der Politik. Ich sehe allerdings kaum noch, daß die derzeitige Bundesregierung diesen Wechsel will, beziehungsweise ihn schaffen kann. Sie hat über 15 Jahre das Gegenteil von dem getan, was notwendig gewessen wäre. Sie hat von unten nach oben umverteilt, hat den dramatischen Arbeitslosenrekord mit verursacht.

Haben Sie auf Schröder Einfluß, und können ihm sagen, mit den Gewerkschaften ist Neoliberalismus nicht zu machen?

Wenn es nur so einfach wäre, daß nur eine Person für ein bestimmtes Programm steht, dann würde ich mich solange mit ihm einschließen, bis ich ihn von meiner Position überzeugt habe. So ist es aber nicht. Ein Programm wird immer gemeinsam entwickelt und beschlossen. Ich scheue mich nicht, mich mit der Wirtschaftspolitik Schröders öffentlich auseinanderzusetzen. Zu Markt und Staat haben wir unsere Position. Wir haben festgestellt, daß der klassische Interessengegensatz nicht aufgehoben ist, andere Bereiche spielen auch eine Rolle. Es gibt Interessengegensätze zwischen Menschen, die Arbeit haben und denen, die keine haben, zwischen Alten und Jungen oder zwischen Frauen und Männern. Das sind keine klassischen Gegensätze, aber sie prägen die Gesellschaft.

Und Ökonomie und Ökologie?

Langfristig und zukunftssicher schafft und sichert mehr Umweltschutz Arbeitsplätze. Mit einer innovativen und modernisierten Wirtschaft kann beides gelingen: Die Erneuerung von Produkten, Produktionsprozessen und Dienstleistungen kann vorangetrieben werden. Notwendige Schritte für eine soziale und ökologische Umorientierung sind möglich.

Ihnen wird vorgeworfen, Sie moderierten den Prozeß der Erneuerung zu wenig.

Ich bin doch nicht der Oberaufseher der Gewerkschaften! Wir müssen differenzieren: Inhalte der Tarifpolitik und Mitgliederbetreuung sind originäre Aufgaben der Mitgliedsgewerkschaften. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Der DGB hat als Dachverband andere Aufgaben. In Fragen der Wirtschafts-, Europa- und Sozialpolitik hat er eine koordinierende Funktion.

Ein Konzept im Einigungsprozeß ist nicht zu erkennen. Das alles hat mehr den Charakter eines Würfelspiels...

...wenn gewürfelt würde, kämen wirklich Zufälligkeiten heraus. Aber das ist es genau nicht. Es gibt seit langem Gespräche. Das erste Ergebnis ist der von Ihnen angesprochen Verbund. Nun wird überlegt, welche Strukturen künftig nötig sein werden, um der veränderten Welt im Rahmen der Dienstleistungsbranche Rechnung zu tragen. Begrüßenswert ist, daß die DAG in die Gespräche eingebunden ist. Die zentrale Frage wird sein, wie sich die Dienstleistungsgewerkschaft in Zukunft aufbaut.

Neudeutsch heißt es, Erwerbsbiographien ändern sich. Wer heute einen Beruf lernt, wird ihn nicht sein Leben lang ausüben.

Das stimmt. Entscheidend ist, daß sich die Gewerkschaften ein Bild davon machen, wodurch solche Erwerbsbiographien in den nächsten 20 Jahren bestimmt werden. Zum Beispiel: Wie begleiten die Gewerkschaften die Menschen in Zeiten, in denen die Erwerbsarbeit unterbrochen ist.

Was bieten die Gewerkschaften hier den Mitgliedern an?

Sie können Mitglied ihrer Gewerkschaft bleiben. Wie stark sie in die Gewerkschaft eingebunden werden, hängt von den einzelnen ab. Und in der Tarifpolitik der letzten fünf, sechs Jahren haben wir konsequent auf Beseitigung der Arbeitslosigkeit orientiert.

Es ist doch immer schwerer zu vermitteln, daß man aus Rücksicht auf die Erwerbslosen auf Lohn-Zuwächse verzichtet und gleichzeitig spürt, daß nicht wirklich etwas passiert.

Wenn wir fragen, wozu hat unsere moderate Tarifpolitik geführt, dann fehlt uns bis heute die Gegenleistung der Arbeitgeber. Solange die Menschen im Betrieb nicht sehen, daß durch die Tarifpolitik tatsächlich neue Arbeitsplätze entstehen, hat sich diese Politik nicht gelohnt.

Haben Sie andere Ideen?

Wenn jetzt der Tarifvertrag zur Altersteilzeit flächendeckend eingesetzt wird, dann bekommen wir den Generationenwechsel in den Betrieben. Wenn konkrete Verabredungen zur Verringerung der Überstunden getroffen werden, wären wir noch ein Stück weiter. Ich halte es nach wie vor für einen Skandal, was an Überstunden in diesem Land geleistet wird. Über Teilzeit darf man nicht nur sprechen, man muß sie anbieten. Wir meinen mit Teilzeit keine Tätigkeiten mit niedrigster Qualifizierung oder eine Domäne für Frauen. Teilzeit muß für alle gesellschaftlichen Schichten etwas Normales werden. Wenn das alles eingesetzt wird, gibt es auch eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt.

Was wäre Ihnen die Trendwende wert?

Ich selbst mache ja keine Tarifverträge. Aber wenn es tatsächlich zu Gegenleistungen kommt, bin ich bereit, auch weiter für beschäftigungssichernde Tarifpolitik zu werben. Ich möchte aber nicht wie der Rufer in der Wüste dastehen.

Wer am Modell der Vollbeschäftigung festhält, macht sich Illusionen über den Zustand der Gesellschaft, wird den Gewerkschaften von Intellektuellen vorgeworfen.

Als Gewerkschaften bekennen wir uns dazu, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen, damit sie darüber ihre Existenz sichern können. Das Arbeitsverhältnis als solches wird sich verändern. Das klassische Normalarbeitsverhältnis wird nicht mehr im Vordergrund stehen. Wir haben begriffen, daß man neue Formen der Arbeitsverhältnisse nicht tabuisieren darf. Mit "Pfui" verhindert man nichts. Es gibt viele sinnvolle Formen, wie Beschäftigung aussehen kann, zum Beispiel ist auch zu überlegen, wie Erwerbsarbeit innerhalb der Familie zu gestalten ist.

Kommen Sie hier nicht in die Nähe dessen, was Kritiker als "Teilen in der Klasse" bezeichnen?

Mit alten Kampfbegriffen kommen wir doch nicht weiter. Wir brauchen neue Ideen und nicht alte Rezepte. Und wir dürfen uns nicht mit ideologischen Scheuklappen den Blick auf Möglichkeiten verstellen, wie wir neue Beschäftigung schaffen können.

Arbeitszeitverkürzung stößt in den Betrieben zunehmend auf Widerstand. Derzeit ist kaum an eine Offensive in dieser Frage zu denken, zumal viele Arbeitnehmerhaushalte beispielsweise auf Überstunden angewiesen sind. Haben es die Gewerkschaften versäumt, in dieser Frage mit den Mitgliedern Klartext zu reden?

Arbeitszeitverkürzung bleibt auch weiterhin ein wichtiges Instrument, um Beschäftigung zu sichern. Für viele Beschäftigte ist das inzwischen aber wirklich zum Problem geworden. Sie haben in den letzten Jahren auf Einkommenszuwächse verzichtet, damit die Arbeitgeber Spielraum bekommen, um neue Leute einzustellen. Leider wurde die Zusage nicht eingehalten. Wer also will es den Beschäftigten verdenken, wenn sie jetzt darauf pochen, mehr Geld in die Taschen zu bekommen? Das ist dann aber eine Folge der Verweigerungshaltung der Unternehmer, nicht der mangelnden Einsicht der Beschäftigten.

Können Sie mal benennen, was Sie unter "Modernisierung des Flächentarifvertrags" verstehen?

Modernisierung heißt Weiterentwicklung und nicht Ausstieg, so wie manche Arbeitgeberfunktionäre das propagieren. Wir müssen den Flächentarifvertrag so gestalten, daß er auch in Zukunft den Anforderungen einer modernen Wirtschaft und den gewandelten Bedürfnissen der Beschäftigten gerecht wird. Dazu gehören auch mehr geregelte Wahlmöglichkeiten für die Betriebe.