Sein größter Erfolg

Jürgen Busches Biographie eines Mannes, der selten den Kopf verliert: Helmut Kohl

"Der Mensch lebt in seinem Körper. Der Mensch ist früher als der Staat. Gute Menschen werden stets einen guten Staat bilden. So wie der Mensch trotz seiner Freiheit nicht darf, was ihm beliebt, so darf auch der Staat nur, was erlaubt ist. Demokraten bedürfen auch der Muße. Deutschland ist und bleibt Frankreichs Nachbar. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt. Ich sehe im Arbeiter einen Unternehmer; alles andere ist von gestern. Es ist eine Forderung des Naturrechts, daß der Leiter des Betriebes seine Angestellten nicht nur für seine Zwecke arbeiten läßt, sondern daß er sich um seine Angestellten sorgt. Und umgekehrt verlangt die Natur seitens der Angestellten Verständnis und Sorge um Betrieb und Brotherren. Ist das Eigentum vernichtet, so rollt die Kugel mit dem Wappen der völligen Auflösung weiter, zerstört im Vorüberrollen Familie, Volk und Staat und alle geistig-sittlichen Werte, sowie alle auf Gut und Böse basierenden normativen Elemente. Gibt es nicht viele glückliche Ehen und auch glückliche Familien, die trotz sorgender Armut eine frohe Gemeinschaft bilden, da sie sich in das Reich des Immateriellen hinein vollständig entwickelt haben? Ganz zu schweigen von denen, die ohne die moralische Kraft aus natürlicher Veranlagung in bescheidener Armut glücklich sind. Wohl möchte die Kirche gern, daß alle Gott und den Nächsten lieben. Um dem Raum und Möglichkeit zu schaffen, arbeiten die Christen in der Politik. Da die Politik aus Sorge um den Mitmenschen besteht, ist sie ein Feld der Betätigung für die feinsten und saubersten Naturen."

Solche Sätze sprach und schrieb seinerzeit der Vorsitzende Rainer Barzel, ein Mann, der mit allen Weihwassern der katholischen Soziallehre gewaschen und nicht selten auch mit dem Klingelbeutel gepudert schien. Wenn der Weltgeist nicht vollkommen bekloppt geworden war, dachte man damals, konnte es schlimmer kaum mehr kommen. Aber dem Fraktionsvorsitzenden Barzel folgte Karl Carstens, dem Parteivorsitzenden Barzel folgte Helmut Kohl. Der Privatmann Barzel widmete sich 1973, nach seinem Rücktritt wegen angeblicher innerfraktioneller Meinungsdifferenzen um den Beitritt der BRD zur Uno, vorläufig der Literatur. Ein juristisches Gutachten honorierte der Flick-Konzern mit 1,7 Millionen, die hochliterarische Erzählung "Das Formular" findet man noch heute in jeder besseren Stadtbibliothek: Barzel schildert auf - man kann es nicht anders sagen - kafkaeske Weise, wie der einzelne in der Diktatur von einem kafkaesken Sicherheitsapparat, der keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt, drangsaliert und schließlich zerstört wird.

Später erkletterte Barzel noch einmal den Stuhl des Bundestagspräsidenten, mußte aber, als die Parteispendenaffäre ihren Höhepunkt erreichte, das politische Feld der Betätigung endgültig räumen. Ob das fürstliche Honorar, das Flick in den Jahren 1973ff. für eine geringe Leistung ausgeworfen hatte, wirklich nur ganz unverbindlich die Stimmung hatte heben und dafür hatte sorgen sollen, daß gerade die saubersten Naturen im Alter nicht darben müssen, fragte man sich damals, oder ob mit pekuniären Mitteln nicht vielmehr die Altlast Barzel aus dem Weg geräumt und dieser freigeschaufelt und geebnet worden war für den Kandidaten Kohl.

Um solche Kamellen schert Jürgen Busche, Kohls "essayistischer Biograph", sich heute nicht mehr. Schließlich handelt er von der "Anatomie eines Erfolgs", nicht von der Anatomie einer Intrige. Und weil er auch nicht von der Anatomie eines Desasters handelt, endet die Biographie akkurat mit dem 3. Oktober 1990: "Natürlich kann auch ein Biograph aufhören, wann er will." Kein Wort also davon, Kohl sei gerade an dem Problem gescheitert, das ihm seit nunmehr sechzehn Jahren die größte mitmenschliche Sorge bereitet: an der Arbeitslosigkeit.

"Jürgen Busche studierte nach zweijährigem Militärdienst in Münster Alte Geschichte, Philosophie und Germanistik." Das wüßte man gern genauer. Nein, nicht ob Busche nach zweijährigem Militärdienst in Münster Alte Geschichte studierte oder ob er nach zweijährigem Militärdienst in Münster Alte Geschichte studierte, sondern ob der Umstand, daß einer gedient hat, inzwischen auch im zivilen Pressewesen wieder als Empfehlung gilt.

Busches journalistische Karriere begann bei der FAZ. Dann wechselte er vom führenden bürgerlichen Intelligenzblatt zur "dümmsten Zeitung der westlichen Welt" (H.L. Gremliza), zur Hamburger Morgenpost nämlich. 1996 ließ er sich verlocken, das Innenressort der Süddeutschen Zeitung aufzugeben, um Chefredakteur der Wochenpost zu werden, wenige Monate bevor diese an die Woche verscherbelt und damit abgeschafft wurde. Seit Februar ist Busche Chefredakteur der Badischen Zeitung in Freiburg.

Kohls größter und wohl auch einziger Erfolg ist es, Kanzler geworden und bis heute geblieben zu sein. Das sieht Busche nicht anders. Die deutsche Einheit etwa hätte, als Gorbatschow die DDR auf den Weltmarkt warf, jeder gepackt, der sich Kanzler hätte nennen dürfen. Welcher überragenden persönlichen Qualität aber verdankt es Kohl, daß eben er und kein anderer den Rockzipfel der Geschichte erhaschen konnte? Ist es sein Mut? "Mut hat Kohl immer wieder bewiesen. Schon 1946 war er, ein Schüler noch, im traditionell von der SPD beherrschten Ludwigshafen in die CDU eingetreten ... Das war die Partei, in der und für die Kohl seine Zukunft riskierte." Fürwahr, mit seinem mittelmäßigen Examen in Geschichte hätte er überall Karriere machen können, der verspätete Widerständler aber opferte sich dem Gemeinwohl.

Und sonst? Kein bißchen strategisches Genie? Busche hebt an zu analysieren: Die Bundestagswahl von 1976 hatte Kohl gegen den amtierenden Schmidt verloren. Die nächste Wahl wollte Kohl, weil sie nicht zu gewinnen war und man ihm eine dritte Chance kaum gewährt hätte, lieber auslassen. Vielmehr sollte der ewige Widerpart Strauß vor den Schrank des Wählervotums laufen, um fortan und auf ewig in München hocken zu bleiben. Nun konnte Kohl aber Strauß nicht einfach zur Kandidatur auffordern, denn dieser hätte das Manöver gewiß durchschaut. Also ließ er seinen CDU-Vorstand den Niedersachsen Albrecht nominieren, wohl wissend, der Choleriker Strauß würde wütend aufspringen, das Mitspracherecht der Schwesterpartei einklagen und schließlich den eigenen Anspruch geltend machen. Dann konnte Kohl um der christdemokratischen Einheit willen nachgeben.

Alles geschah, wie der Machiavelli aus Friesenheim es geplant hatte. Strauß verlor die Wahl und blieb in Bayern. Und als Genscher zwei Jahre später die sozialliberale Koalition aufkündigte, saß der dicke Oppositionsführer längst bereit. Das nennt man klug geklügelt, doch man fragt sich auch, ob der Historiker Busche nicht viel schlauer ist, als es der Stratege Kohl je war.

Bald kam die Affäre Wörner/Kießling, und Kohl durfte zum ersten Mal demonstrieren, was er unter "geistig-moralischer Wende" verstand: Ruhe bewahren, nichts zugeben, abwarten und dem Kollegen Minister, wenn er gefehlt hat, nicht gleich den Kopf abreißen. Allerdings war auf die neue Gemütlichkeit, die beim Bürger bestens ankam, nicht immer Verlaß. So hatte Professor Biedenkopf einst, als Kohl den Parteivorsitz erstrebte, die sachliche Notwendigkeit einer Trennung von Partei- und Fraktionsführung begründet und war mit dem Amt des Generalsekretärs belohnt worden. Drei Jahre später rückte Kohl als Oppositionsführer in den Bundestag ein, und Biedenkopf war nicht mehr erträglich, denn "ein Wissenschaftler nimmt ernst, was er einmal gesagt oder geschrieben hat".

Aus der Bitburg-Affäre macht Busche ein bloßes Stilproblem. Schließlich sei ja nichts dabei gewesen, man habe doch die SS-Männer nicht exhumieren können, und ein Soldatenfriedhof ohne SS-Gräber lasse sich kaum finden. Aber Reagan habe einfach besser ausgesehen als Kohl. Dieser habe zuwenig staatsmännische Haltung gezeigt und zuviel Gefühl. Trotzdem sei er beileibe kein Mann der Rechten, sondern ein Europäer.

Vermutlich teilen Busche und Kohl die "geringe nationale Begeisterungsfähigkeit der Deutschen, wie sie aus den längsten Abschnitten ihrer Geschichte ablesbar ist. Sicherlich, es gab die - fast scheint es, kompensatorischen - Exzesse in der Folge der Reichsgründung 1870. Aber das war - ein Mirakel der Geschichte - mit der Gründung der Bundesrepublik verschwunden." Und 1990? "An einen Zuwachs nationaler Macht für die Bundesrepublik dachte kaum jemand - weder im ersten Augenblick noch in der Folgezeit." Zumindest redete kaum einer von Macht, denn schmutzige einsilbige Wörter nimmt man heute ungern in den Mund. Neuerdings spricht man von "wachsender Verantwortung".

Zum Schluß verknüpft Busche das Schicksal seines Buches - Standardwerk oder Altpapier - mit einer Prognose: Kohl werde es wohl nicht noch einmal schaffen, denn Kamerad Trend habe schon bei den letzten drei Wahlen mit Prozenten geknausert. Eine telefonische Blitzumfrage in meiner Familie ergibt im Gegenteil eine Zweidrittelmehrheit für die CDU und 33 Prozent für die Grünen. Man darf gespannt sein.

Jürgen Busche: Helmut Kohl - Anatomie eines Erfolgs. Berlin Verlag, Berlin 1998, 304 S., DM 39,80