Das singende Subjekt

Vor 400 Jahren wurde die Oper erfunden. Warum das bürgerliche Musiktheater weniger trostlos ist als das linke Banausentum.

Es ist schon reichlich merkwürdig: eine geschichtslos dahinstolpernde und deshalb auf das Abfeiern von Jubiläen, Gedenktagen und Geburtstagen (deren zeitlicher Abstand zur Gegenwart stets durch den Nenner 10 teilbar sein muß) versessene Gesellschaft läßt sich in diesem Jahr ein Jubiläum offenbar völlig entgehen. 400 Jahre ist es her, 1598, daß die erste heute noch erhaltene Oper aufgeführt wurde: "Dafne" des italienischen Komponisten Jacopo Peri (1561-1633), Text nach Ovids "Metamorphosen" von Rinuccini. Es ist dies umso eigenartiger, da die Oper gemeinhin als die musikalische Kunstform gilt, in der ein selbstbewußtes Bürgertum sich zu genießen und zu feiern pflegt; Oper gilt als die klassische bürgerliche Repräsentationskunst, Inbegriff des Prätentiösen, Grandiosen, des "Hochkulturellen" also.

Nun ist dies freilich nichts anderes als ein Nimbus, der den Opernbetrieb immer noch umgibt, der aber durch noch so häufiges Nachplappern nicht wahrer wird. Denn die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Oper, die sie als bürgerliche Repräsentationskunst prägten, sind längst dahin. Ein Bürgertum, das in der Lage wäre, ein ästhetisches Sensorium auszubilden, das ein kulturelles Privileg nicht nur beansprucht, sondern es auch offen zur Schau stellt, den abhängigen Massen den von ihm angeeigneten gesellschaftlichen Reichtum demonstrativ vorhält und ihnen damit eine Ahnung vermittelt, wovon sie ausgeschlossen sind - ja, früher, im 18. und 19. Jahrhundert und anderswo, im Paris des Hochkapitalismus, mag es das gegeben haben, aber doch nicht mehr heute, wo die kulturellen Interessen auch der unmittelbaren Profiteure der Gesellschaft auf "stumpfsinnig aufgeblähte Kleinbürgerhobbies" (Pohrt) reduziert sind.

Die Oper meinte einmal die Apotheose des aus der Naturverfallenheit heraustretenden emanzipierten bürgerlichen Individuums; das Kompositionsverfahren der Monodie - ausschwingende Gesangsmelodien, unterstützt von den Harmonien des Generalbasses - emanzipiert den Klang als musikalischen Parameter. Diese Klangfolgen dienen wiederum der genauen Darstellung der menschlichen Gemütsbewegungen und Affekte - sie verkörpern also selbst das subjektive Prinzip. Keine göttliche oder kosmische Harmonie wird von der Musik mehr abgebildet, sondern die Seele des bürgerlichen Menschen. Mit der Oper tritt das erwachende Bürgertum in eine ästhetische Selbstverständigung ein. Dementsprechend gibt es in der Geschichte der Oper einen konstanten Grundzug, was die Stoffe angeht.

Claudio Monteverdis erste Oper handelt von Orpheus, jener mythologischen Figur, die durch ihren Gesang die Unerbittlichkeit der Götter und den Schrecken der Furien zu bannen vermag; und zu den durchgehenden Themen der Oper zählt auch weiterhin die konfliktvolle Erhebung des einzelnen Subjekts über das Kollektiv, der Einspruch gegen ein blindes Schicksal. Begreiflich, daß der Verfall der Oper konform geht mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die in ihrem Vergesellschaftungsmodus jene Naturverfallenheit reproduziert, von der die Bürger, die mit allen anderen Klassen zu Funktionären des verselbständigten Apparats degradiert sind, sich einst lösen wollten. Die gesungenen und gegeigten Emotionen, das Prätentiös-Erhabene und Verklärende, das der musikdramatischen Zurschaustellung gesellschaftlicher und seelischer Konflikte schon durch die Tatsache ihrer ästhetischen Sublimierung eignet, erhält so etwas Albernes und Lächerliches. Besser, kürzer und treffender, als dies soziologische Abhandlungen könnten, hat diesen Aspekt Georg Kreisler in seinem 1955 zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper geschriebenen parodistischen Song "Opernboogie" aufgegriffen. Die Oper, die da gespielt wird, hat der Ich-Erzähler verfaßt: eine komplette Sinnlosigkeit, bei der am Ende nicht nur die dramatis personae beim Absingen bekannter Opernohrwürmer ("Lache, Bajazzo!") wegsterben, sondern auch "der Dirigent singt: O wie so trügerisch sind Frauenherzen - und stirbt". Glänzend, wie Kreisler das Gemisch aus Bildungsdünkel, Prestigepflege, Halbbildung und Verachtung für das hochgehaltene Bildungsgut karikiert, das sich in den Gesprächen zeigt, mit dem das Opernpublikum die Pausen zu überbrücken trachtet: "Der Dirigent ist fürchterlich/ soviel Talent, das hab' auch ich/ Was reden Sie da, Sie sind nicht gescheit!/ Wie finden Sie mein neues Kleid?Ö Ich halt' die Oper für geschwoll'n/ Wir hätten ins Kino gehen soll'n".

"Die Oper" - so Adorno in seiner "Einleitung in die Musiksoziologie" - "ist einer der Lückenbüßer in der Welt auferstandener Kultur, ein Füllsel in den Sprenglöchern des Geistes. Daß der Opernbetrieb unverändert weiterklappert, obwohl buchstäblich nichts mehr daran stimmt, bezeugt drastisch, wie unverbindlich, gewissermaßen zufällig der kulturelle Überbau wurde." Von der Kunst, von den Komponisten sei dieser Zustand nicht zu ändern, so Adorno weiter.

Wenige bedeutende Ausnahmen bestätigen diese Regel. Da wäre zu nennen Bernd Alois Zimmermanns von der Kölner Oper zunächst für unspielbar erklärtes, dann 1965 uraufgeführtes Werk "Die Soldaten" nach dem gleichnamigen Drama von Lenz. Was Zimmermann an dieser literarischen Vorlage besonders faszinierte, war die von Lenz negierte Einheit von Ort, Zeit und Handlung, und diese Diskontinuität versuchte er, sein Konzept eines musikalischen "Pluralismus" weiterentwickelnd, durch Collagetechnik, die Übereinanderschichtung heterogener Materialien zu realisieren. Zimmermann schwebte für eine adäquate Aufführung ein "omnimobiles" Musiktheater von kugelförmiger Gestalt vor, in dem aus allen Richtungen szenische wie akustische Ereignisse auf das Publikum eindringen, das Publikum andererseits seinen Ort und seine Perspektive frei bestimmen kann.

Erwähnt werden muß auch Helmut Lachenmanns 1997 in Hamburg aufgeführtes "Mädchen mit den Schwefelhölzern", das Lachenmann selbst als "Musik mit Bildern" bezeichnet. Was man in einer Oper erwartet, gibt's hier nicht: Weder wird ein "Schauspiel" aufgeführt, noch ist die Darstellerin des Mädchens eine Sängerin - die einzigen Stimmen, die vorkommen, sind zwei Soprane, die als Instrumente behandelt werden. Ganz im Vordergrund steht also die Musik, und die von ihr evozierte Bilder- und Vorstellungswelt soll durch pantomimische und gestische Aktionen unterstrichen werden. Daß Lachenmanns Stück einen handfesten Eklat provozierte, ist nicht weiter verwunderlich, ist doch gerade das Opernpublikum eine träge, reaktionäre Masse par excellence, obwohl nicht auszuschließen ist, daß mancher, des ewigen Traviata-, Carmen- und Zauberflöte-Gedudels überdrüssig, die Provokation als eine wohltuende Abwechslung erfahren haben mag.

Jedenfalls: Selbst den Verwaltern des offiziellen Ungeistes scheint das Abfeiern einer seiner zentralen Einrichtungen suspekt zu sein, und darum bleiben wohl die fälligen Jubiläumsveranstaltungen aus. Ein Grund zur Trauer ist dies freilich nicht, denn somit hat man die Oper nun für sich und kann, ohne von irgendwelchem Geschnatter und geschwollenen Erklärungen belästigt zu werden, jene gelungenen Aufführungen besuchen, die der Opernbetrieb ja auch bereithält.

Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Überlegungen über die Antiquiertheit der Opernform nichts zu tun haben mit dem üblichen linken Ressentiment gegen die Oper. Wenn Leute, die ihren Daseinszweck darin erblicken, den unter Warenmarken wie HipHop oder Techno feilgebotenen Ausschüttungen der Kulturindustrie auf "Diskurs" und "Subversion" zu frisieren, gegen die "elitäre Hochkultur" wettern, dann trifft dieser Vorwurf ausgerechnet jenes Moment an der bürgerlichen Kultur, das längst entsubstantiiert ist, aber als entsubstantiiertes immer noch dahinwest: die Ahnung von etwas, was jenseits des trostosen Alltags läge. Das linke Banausentum ist das ganz Falsche, von dem sich sogar das Falsche des Kulturbetriebs noch erfreulich abhebt.