Die Farce geht weiter

Italien: Das Sofri-Verfahren wird nicht wieder aufgenommen

Es kam wie erwartet und darf nichtsdestotrotz als Skandal bezeichnet werden: Das Verfahren gegen drei ehemalige Häuptlinge der außerparlamentarischen Organisation Lotta continua (Der Kampf geht weiter) - Adriano Sofri, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani - wird zunächst nicht wieder aufgerollt. Das Appellationsgericht in Mailand hat Mitte vergangener Woche den Antrag ihrer Verteidiger zurückgewiesen, ein Wiederaufnahmeverfahren zuzulassen. Auf der Grundlage der Aussage eines Kronzeugen waren die drei wegen Mordes an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi, der am 17. Mai 1972 erschossen worden war, zu je 22 Jahren Haft verurteilt worden - Sofri und Pietrostefani als "Auftraggeber" des Mordes, Bompressi als der Todesschütze. Der Kronzeuge, Leonardo Marino, nach eigener Aussage Fahrer des Wagens, aus dem heraus der Anschlag verübt worden sein soll, kam mit elf Jahren Haftstrafe davon, die dann verjährten. Er befindet sich in Freiheit.

Marino hatte sich 1988, sechzehn Jahre nach Calabresis Tod, plötzlich "erinnert". Er war in einer 17 Nächte langen Session von Polizisten auf den Prozeß vorbereitet worden. Bedauerlicherweise existieren davon keine Protokolle. Jedenfalls soll Sofri Marino am 13. Mai 1972 auf offener Straße im Anschluß an eine Kundgebung in Pisa beauftragt haben, nach Mailand zu fahren und dort Calabresi umzubringen. Schon vier Tage später will Marino dann Bompressi zum Anschlagsort gefahren haben - andere Zeugen haben eine Frau als Fahrerin des Fahrzeugs angegeben. An die Farbe des Wagens konnte sich Marino nicht erinnern, auch den Fluchtweg gab er vor Gericht falsch an, und den Zug, den er nach der Tat nach Turin genommen haben will, hätte er zeitlich gar nicht mehr erreichen können.

Trotz der Ungereimtheiten und obwohl wichtige Beweismittel spurlos "verschwunden" sind, begnügten sich die Richter jedoch mit den Aussagen des offensichtlich schlecht präparierten Kronzeugen, um Bompressi, Pietrostefani und Sofri im Januar 1997 zu verurteilen - nach einem Verfahren durch insgesamt sieben Instanzen.

Die Widersprüche in den Aussagen und die Justizfarce haben Dario Fo und Franca Rame zum Anlaß für ein neues Theaterstück genommen. Grundlage der Performance sind die Prozeßakten, die Stoff genug für eine Realsatire liefern. Anfang vergangener Woche fand die Uraufführung des Stückes mit dem Titel "Marino libero! Marino è innocente" in Mailand statt. Die sonst bei Premieren anwesende Prominenz blieb der Aufführung fern.

Die hat wenig Interesse, ihren Seelenfrieden mit dieser düsteren Geschichte zu belasten - galt die Ermordung Calabresis offiziell doch als Racheakt für den tödlichen Fenstersturz des Anarchisten Pinelli bei einem polizeilichen Verhör in Calabresis Büro. Pinelli wiederum war von Calabresi verdächtigt worden, am 12. Dezember 1969 den Bombenanschlag auf die Landwirtschaftsbank an der Piazza Fontana in Mailand verübt zu haben, das 16 Todesopfer gefordert hatte.

In diesen Anschlag aber waren, wie sich später herausstellte, auch drei Angehörige der Neofaschistentruppe Ordine Nuovo, Franco Freda, Giovanni Ventura und Pino Rauti verwickelt; sie wiederum agierten unter der fachkundiger Anleitung des italienischen Geheimdienstes SID - beispielsweise seines Mitglieds Guido Giannettini - und der klandestinen Nato-Struktur Gladio. Die Anschlagsserie am 12. Dezember 1972 - auch in Rom waren einige Explosionen zu verzeichnen - markierte zugleich den Beginn der berühmt-berüchtigten Strategie der Spannung. Damit versuchten der italienische Staat und die Gladio-Struktur durch Bombenanschläge und Morde der sozialen Krise Herr zu werden, die sich seit dem Mai 1968 auch in Italien ausgebreitet hatte, und ein autoritäres politische System zu errichten. Ab 1992 erhärteten neue Erkenntnisse die These, daß in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1972 ein - im letzten Moment abgeblasener - Staatsstreich geplant war, um eine Präsidialrepublik nach gaullistischem Muster zu installieren.

Nach der Premiere erklärte Dario Fo: "Es hat eine enorme Wirkung, nicht nur auf die Jugendlichen, sondern auch auf die Personen, die über diese Jahre alles wissen müßten." In den Geschichtsbüchern lese man vom Terrorismus, nichts jedoch über die Staatsmassaker. Aber in Italien gebe es ein enormes Bedürfnis nach der Wahrheit, und er spüre die Entrüstung wachsen.

Der Verteidiger von Bompressi, Pietrostefani und Sofri, Alessandro Gamberini, hat angekündigt, juristisch gegen die Entscheidung des Kassationsgerichts vorzugehen. Seine drei Mandanten erwägen einen Hungerstreik.