Gnädige Juristen

In den wenigen Prozessen gegen Euthanasie-Ärzte zeigte die westdeutsche Justiz tiefes Mitgefühl - mit den Tätern

"Es war der Sonntag, bevor die Amerikaner kamen", berichtete Johann Lavenberger am 28. Oktober 1949 vor dem Schwurgericht beim Landesgericht München I. An jenem Sonntag hatte Lavenberger bei seinem Besuch in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar zum letzten Mal mit seinem Stiefsohn Karl Memmel gesprochen. Stets hatte der Junge über die kärglichen Mahlzeiten geklagt. Deshalb brachte der Stiefvater auch diesmal zusätzliche Nahrungsmittel mit. Die Pfleger versicherten, der Junge werde sie bekommen. Drei Tage später, unmittelbar vor dem Eintreffen der Amerikaner, starb Karl Memmel. Er war verhungert.

Die Krankenanstalt Eglfing-Haar bei München und auch heute noch Krankenanstalt, war berüchtigt für ihre "Hungerhäuser". Allein in den letzten Kriegsmonaten starben hier 131 Kinder, fast genauso viele wie in den Jahren seit 1940, als die Kindermordstation auf dem weitläufigen Klinikgelände etwas abseits der normalen Kinderkrankenstation eingerichtet worden war. Dr. Herrmann Pfannmüller, seit 1938 Direktor der Heilanstalt mit etwa 3 000 Betten und einem Stab von 15 Ärzten, pflegte, Besuchern die Kinderstation als Glanzstück von Haar zu präsentieren. In keinem anderen Euthanasie-Zentrum gab es derartige Führungen durch die Anstaltshäuser, mit denen die Öffentlichkeit von der Minderwertigkeit der Patienten überzeugt werden sollte. Ein Zeuge beschrieb 1946 dem US-Militärtribunal die schaurigen Details einer solchen Lehrstunde: "In ca. 15-25 Kinderbetten lagen ebenso viele Kinder im Alter von ca. einem bis fünf Jahren." Beiläufig habe Pfannmüller erwähnt, es seien auch einige Kinder dabei, denen nichts fehle. "Dann", fuhr der Zeuge fort, "nahm Pfannmüller ein Kind aus dem Bettchen. Er nahm es so, wie man einen Hasen nimmt. Ich schätze, daß das Kind ca. drei Jahre alt war. Es war völlig abgemagert und verrunzelt und, auch für einen medizinischen Laien erkennbar, kurz vor dem Verhungern. Er meinte, das sei die einfachste Methode, da brauche man kein Gas oder derlei."

"Sonderkost" hieß diese Methode im Nazi-Jargon. Medikamente waren die Alternative. In Haar spritzten die Pfleger und Schwestern meist eine tödliche Menge Luminal oder verabreichten eine Überdosis des Schlafmittels Veronal, in Tee aufgelöst. Gaskammern gab es in Haar nicht. Aber ab 1940 rollten Transporte mit Patienten von Haar ins württembergische Grafeneck, ab 1941 ins hessische Hadamar und nach Hartheim bei Linz. Haar diente ab 1940 auch als Sammelanstalt für behinderte jüdische Patienten. Die ersten 25 der insgesamt etwa

5 000 jüdischen Opfer wurden im Januar 1940 in einem eigenen Bus der Euthanasie-Organisatoren von Haar nach Grafeneck transportiert und dort ermordet. Bereits im September konnte der umtriebige Direktor dem Staatsministerium des Innern nach München melden: "Von nun an verpflegt meine Anstalt nurmehr arische Geisteskranke."

Pfannmüller, seit 1922 Parteimitglied und ab 1933 in der SA, betrieb in Haar nicht nur eine Kindermordstation, ein Sammellager für Juden und eine Zwischenstelle zur effizienten Durchführung des bürokratischen Verbrechens. Seine Vision eines behindertenfreien Deutschlands spornte den Psychiater, knapp an der Pensionsgrenze, an, sich in seiner Freizeit noch als Gutachter für die Kanzlei des Führers, der geheimen Euthanasie-Zentrale in Berlin, zu betätigen. Beispielsweise bearbeitete er Ende 1940 innerhalb von vier Wochener mehr als 2 000 von Kollegen ausgefüllten Erfassungsbögen; seine Beurteilung entschied über Leben und Tod der Patienten. Konnte seine Verurteilung nach dem Ende des Krieges mehr sein als eine juristische Selbstverständlichkeit?

Für die Alliierten offenbar nicht. Schon im Herbst 1945 übergaben sie die Verfahren den deutschen Gerichten. Die Justiz, geschwächt durch die vorübergehende Entlassung von Tausenden Nazi-Beamten, gönnte sich erst einmal eine Verschnaufpause. Den Fall Pfannmüller gingen die bayerischen Kollegen so gemütlich an, daß sich 1947 der Rechtsberater des US-Militärtribunals genötigt sah, das Innenministerium in München an die immer noch ungeahndeten Euthanasie-Morde zu erinnern. Erst im März 1951, als in Bayern die Rate ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter den Richtern und Staatsanwälten wie vor 1945 bei

80 Prozent angelangt war, rang sich das Schwurgericht beim Landgericht München I dazu durch, Pfannmüller zu einer Gefängnisstrafe von ganzen fünf Jahren zu verurteilen. Die Tötung der Kinder, führte das Gericht sinngemäß aus, sei kein Mord gewesen. Als Heimtücke hatten US-amerikanische Militärgerichte bewertet, daß den Kindern die tödliche Giftdosis mit dem üblichen Essen verabreicht wurde.

Die deutschen Richter dagegen argumentierten, die Kinder seien in den Heimen nicht wehrloser gewesen als ohnehin schon. Außerdem führten sie die ideologische Fundierung der Euthanasie als strafmildernd an. Die nämlich sei früher nicht nur von ernstzunehmenden Wissenschaftlern propagiert worden, sondern finde auch gegenwärtig noch namhafte Vertreter. Somit könne deren Praktizierung nicht allein dem Angeklagten - schon in seiner Studentenzeit ein glühender Vertreter von Eugenik und Euthanasie - angelastet werden.

Wenige Monate, nachdem das Münchner Schwurgericht sein mildes Urteil gefällt hatte, sprach das Schwurgericht Köln den Arzt Alfred Leu frei. Leu war in der Anstalt Sachsenberg bei Schwerin an der Erwachsenen- und an der Kindereuthanasie beteiligt gewesen. Wie bei Pfannmüller stellten sich die Fragen, ob die Tötung der Patienten heimtückisch gewesen und ob der Glaube an die Euthanasie-Ideen strafwürdig sei. Die Kölner Richter nahmen die Münchner Vorlage auf und verneinten beides.

Weil Leu außerdem glaubhaft zu versichern verstand, er habe bei den Tötungen nur mitgemacht, um Schlimmeres zu verhindern, nämlich die Ausrottung der gesamten Patientengruppe in seiner Anstalt, mobilisierte das Gericht das Konstrukt der "Pflichtenkollision". Demnach war die Behindertentötung objektiv Mord, subjektiv jedoch nicht. Man könne, erläuterte das Gericht, nicht im Namen der Gerechtigkeit einen Arzt verurteilen, der, um Gutes zu tun, unter dem Druck des Terrors zu fragwürdigen Mitteln greifen mußte. Praktisch wurde damit ein begangener Mord gegen das Nichtbegehen eines weiteren aufgerechnet.

Die Verfahren gegen Pfannmüller und Leu sind Belege dafür, daß, wie Theresia Degener bemerkte, "eine wohlwollende Justiz mit den absurdesten juristischen Konstruktionen goldene Brücken baute". Ging es um Entlastungskonstrukte für die Euthanasie-Täter, kannte die Kreativität der Justiz kaum Grenzen. Die Pflichtenkollision ist dafür nur ein Beispiel.

Daneben gab es noch den sogenannten "Verbotsirrtum", mit dem das rangniedere Pflegepersonal für beschränkt und damit für schuldunfähig erklärt wurde. Ähnlich dreist und genauso erfolgreich operierte man mit einer Version der "Teilnahmelehre", die Hitler zum allein Verantwortlichen der "Euthanasie"-Aktion und die unmittelbaren Täter zu willenlosen Rädchen erklärte.

In den Euthanasie-Prozessen in der Bundesrepublik gab es von Ende der vierziger bis zu den letzten Urteilen zur NS-Euthanasie in den achtziger Jahren insgesamt 49 Freisprüche und 36 Verurteilungen, die, siehe Pfannmüller, oft nur symbolischen Charakter hatten. Die Tötung Behinderter galt offenbar weiterhin als "Erlösungstat". Daran konnten die Protagonisten der in den achtziger Jahren neu aufkommende Debatte um die straffreie Tötung "lebensunwerten Lebens" anknüpfen.

In der nächsten Ausgabe der Jungle World berichten wir über die aktuelle Debatte um "Sterbehilfe" in der Bundesrepublik.