Große Klappe, leere Straßen

Nazi-Mobilisierung und linke Orientierungslosigkeit: Der Berliner autonome 1. Mai ist in der Krise

O-Platz, 13 Uhr. Diese kurze Angabe reichte jahrelang, um sich in der Berliner autonomen Szene verständlich zu machen. Alles klar, da sprach jemand von der "Revolutionären 1.-Mai-Demo", die traditionell nach dem Aufstehen um 13 Uhr auf dem Kreuzberger Oranienplatz losging. Als in den vergangenen Jahren stalinistische und maoistische Gruppen immer mehr das Bild der Demonstration dominierten, wichen undogmatische Gruppen und Antifas nach Ostberlin aus. Neuer Slogan: 13 Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz. Dieses Jahr ist fast alles anders. 13 Uhr, O-Platz - auf diese offenbar unumstößliche Weltanschauung setzen weiterhin die ML-Gruppen. Die autonomen und antifaschistischen Gruppen jedoch treten diesmal in Berlin um 13 Uhr wohl gar nicht an.

Das hat verschiedene Gründe: Zum einen die Nazis. Ein Großteil der Szene will sich darauf konzentrieren, den angekündigten NPD-Aufmarsch in Leipzig zu verhindern. Die anderen Ursachen sind hausgemacht: Schon zum ersten Vorbereitungstreffen waren nur sehr wenige Gruppen aus dem autonomen Spektrum erschienen. Lediglich die postautonome Antifaschistische Arbeitsbeschaffungsaktion Berlin (AAB), die den autonomen 1. Mai eigenen Angaben zufolge als Pop-Event begreift, war gewillt, sich an der Vorbereitung zu beteiligen. Die undogmatischen Gruppierungen zogen sich bereits nach wenigen Treffen aus der Vorbereitung zurück. Eine inhaltliche Auseinandersetzung werde bewußt verhindert, warfen "einige autonome Gruppen" der AAB in der Szene-Zeitung Interim vor. Sie mache aus dem 1. Mai ein "Werbe-Highlight" für ihre Organisation. "13 Uhr, R-L-Platz", könne doch nicht die einzige Aussage einer "mit ein bißchen Militanzfetisch garnierten" Demo sein.

Die AAB indes ist ebenfalls gespalten. Einerseits möchte sie als Antifa-Gruppe natürlich nach Leipzig mobilisieren, andererseits die Tradition der autonomen 1.-Mai-Demo in Berlin nicht abreißen lassen. Im Gespräch ist nun eine Demonstration am Abend um 19 Uhr, wenn - so die Rechnung - die ersten Leipzig-Reisenden wieder zurück in Berlin sind. Mit allzu großer Beteiligung rechnet allerdings selbst die AAB nicht. Denn eine Demo im Dunkeln wird angesichts einer in den letzten Jahren immer provokanter auftretenden Polizei kein gemütlicher Feiertagsbummel mit alten Bekannten. Genau dieser Treffpunktcharakter der Demo war jedoch in den letzten Jahren für nicht wenige DemonstrantInnen der Hauptgrund für ihr Erscheinen gewesen.

Die undogmatischen Gruppen aus dem klassisch-autonomen Spektrum bereiten diesmal offenbar keine 1.-Mai-Demo vor. Sie wollen statt dessen mit einem "Autonomen Wochenende gegen die Leere" vom 27. bis 29. März im Mehringhof "dem 1.-Mai-Populismus etwas entgegensetzen". Unter dem Motto "Große Klappe, nichts dahinter ..." wollen sich die Berliner Autonomen und Linksradikalen auf einer Art Mini-Kongreß über Inhalte streiten, die ihrer Meinung nach in der 1.-Mai-Debatte zu kurz kommen. Als Themen werden genannt: "antipatriarchale Politik, Identität und Verhältnis zur 'Masse'", Organisierung, Dogmatismus, Stadtteilarbeit, gesellschaftliche Veränderungen/Globalisierung, Aktionsformen und: "Wie politisch ist das Private?!"

In einer Ankündigung zu dem Diskussions-Wochenende heißt es: "Seit zehn Jahren rennen wir nunmehr Jahr für Jahr am 1. Mai mit ein paar tausend Leutchen über die Straßen von Berlin, um unseren revolutionären Anspruch deutlich zu machen. Aber was heißt das eigentlich noch? Wie bin ich, wenn ich revolutionär bin?" Bei der 1.-Mai-Demo werde kaum noch ein Inhalt vermittelt, nach außen drängen "hauptsächlich Parolen, Phrasen, ungeheuer radikal, aber ohne jede reale Entsprechung", so die Kritik der Altautonomen.

Was mit Inhaltsleere gemeint ist, drücken die BefürworterInnen einer autonomen 1.-Mai-Demo selbst am besten aus. In der Interim beharrte ein "antifaschistischer Diskussionszusammenhang" auf der Durchführung einer "revolutionären" Mai-Demo aus folgendem Grund: "An symbolisch wichtigen Anlässen müssen wir wahrnehmbar sein, weil es nicht nur um die Verhinderung von Schweinereien geht, sondern auch darum, selber neue Leute zu gewinnen, gesellschaftlich, also u. a. in den Medien wahrnehmbar zu sein usw." Der 1. Mai sei "einer der wenigen Anlässe, an denen wir nicht reagieren, sondern unsere eigene Politik in den Vordergrund stellen und als radikale Linke weltweit wahrgenommen werden". An welche "politischen Inhalte" der "Diskussionszusammenhang" da denkt, und wer genau mit diesem "wir" gemeint ist, bleibt der Spekulation überlassen.

Aber das Schöne an Symbolen ist eben, daß alle ihr eigene Deutung haben. Und so wird es auch dieses Jahr rund um den 1. Mai in Berlin wieder "abgehen", mit oder ohne Demo. Denn daß alle, die sonst zum 1.-Mai-Spaziergang oder zur abendlichen Randale in die Kieze strömen, diesmal nach Leipzig fahren, um den Nazis Einhalt zu gebieten, das glaubt in der Szene niemand.