Das Holocaust-Dokument des Vatikan

WIR erinnern UNS nicht

"Taten Christen alles Denkbare, um denen, die bedroht wurden, zu helfen, besonders den bedrohten Juden?" Im Dokument "Wir erinnern uns. Eine Betrachtung über die Shoah" stellt der Vatikan diese Frage, und gibt gleich auch die Antwort: "Viele taten es, aber andere taten es nicht." Diesen Unfug historisch-wissenschaftlich zu widerlegen, wäre müßig bei einer Organisation, die fünfhundert Jahre braucht, um anzuerkennen, daß die Erde rund ist.

Der Eindruck unerträglicher Ignoranz und Selbstgerechtigkeit legt sich auch beim weiteren Lesen des Papiers nicht. Der Holocaust, erfährt man dort, sei "ein Schandfleck in der Geschichte des zu Ende gehenden Jahrhunderts", ein Teil der Christen sei "nicht stark genug gewesen, die Stimme zum Protest zu erheben".

Elf Jahre bastelte der Vatikan an dieser 14seitigen Erklärung, und manchmal geht es in "Wir erinnern uns" ganz schön konkret zu. Behauptet wird beispielsweise, Papst Pius XII. habe über hunderttausend Juden das Leben gerettet. Da sich für eine solch platte Lüge - spätestens seit Rolf Hochhuths 1963 erschienenem "Stellvertreter" ist über die Rolle von Pius das Wichtigste gesagt - kein Beleg finden läßt, suchen sich die Bischöfe, die das Papier erstellten, ihre Alibijuden. Hohe Würdenträger hätten schließlich seine Rolle gelobt, und vier Belege, drei aus dem Jahr 1945, einen von 1958, werden dazu beigeschafft. Mit diesen dürren Dokumenten will die Katholische Kirche, so Kardinal William Keeler, Erzbischof von Baltimore, "den Eindruck korrigieren", den Hochhuths Stück hinterlassen hat.

"Nun muß ein massiver Druck kommen, um die kirchlichen Archive über den Zweiten Weltkrieg zu öffnen", erklärte der Oberrabbi der Synagoge von West-London, Mark Wiener, der im übrigen "positive Aspekte" in dem Dokument sieht.

Dieser Gedanke ist wirklich hilfreich. Denn es ist offensichtlich, daß alle historischen Behauptungen im Vatikan-Dokument nichts taugen. Wer die Christen in Deutschland in zwei große Gruppen einteilt, in die, die im Widerstand waren, und die, die zu schwach waren, in den Widerstand zu gehen - und wem keine andere, diesmal wirklich große Gruppe, die der Täter nämlich, einfällt - tut dies offfensichtlich nicht aus historischer Unkenntnis, sondern aus klarem Kalkül; zumal nach elf Jahren Beschäftigung mit dem Thema. Wenn der Vatikan endlich Einblick in seine Archive gewährte, wäre mit ziemlicher Sicherheit endgültig das Urteil über Pius XII. und die von ihm repräsentierte Mehrheit der Christen, der deutschen zumal, gesprochen.

Die israelische Tageszeitung Ma'ariv kommentiert das treffend: "Das Auffallende an dem Vatikan-Dokument ist besonders das, was in ihm fehlt: Es gibt kein ausdrückliches Schuldeingeständnis der Katholischen Kirche darüber, daß sie ganze Generationen zum Antisemitismus aufstachelte. Es fehlen auch eine eindeutige Erklärung über den Anteil der Katholischen Kirche an der Katastrophe, die während des Holocaust über das jüdische Volk hereinbrach und die Bitte um Verzeihung und Vergebung. Das Dokument verurteilt weder das "stille Einverständnis" des Papstes Pius XII. während der Nazi-Zeit, sondern schreibt sogar, er habe "seine Stimme gegen dunkle Ideologien erhoben". Zusammengefaßt: Die Katholische Kirche läßt die Juden wissen, daß nicht alles gut war, was damals passiert ist.