28. Friede ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

Fortgesetzte Erzählungen

Die Luft flimmerte über der Autobahn und der Himmel verkrümelte sich unter den Fußsohlen wie auf einem heißen Ofenblech. Wir waren auf dem Rückweg von den Bayreuther Festspielen und lagen im Gras, gegen die Böschung gelehnt. Unser Traum war ein Mercedes-Benz 170 - der mit dem hinten aufgesetzten Ersatzrad. Der Wagen fuhr über hundert und hielt fast nie, was man sich von ihm versprach.

"Da kommt einer", sgte Icke. Er sprach so leise wie unser Biologielehrer, wenn wir dem Liebeslied der Grille lauschten. Ich richtete mich auf und stöhnte: "Nicht schon wieder so'ne Karre."

Er schien ein Tempo zu sein, der mit dem winzigen Fahrerhäuschen, in dem kaum zwei Dünne Platz hatten, aber dahinter kam noch einer, der wie ein DKW aussah. Ich sagte: "Der sieht schon besser aus" und spürte eine gewisse Erregung. Gleich zwei Autos, nicht zu fassen, aber so war es immer beim Hitchhiken: Erst kam ewig keiner, und dann gleich ein ganzes Rudel.

Heute, wo das öffentliche Leben sich praktisch nur noch auf Autobahnen und Landstraßen abspielt und alle zehn Minuten ein Mensch bei einem Verkehrsunfall stirbt, mag dieser Hinweis belanglos erscheinen, aber damals hatten die Leute eben Wichtigeres im Kopf als ständig Auto zu fahren: Den Korea-Krieg, die Heirat des Schah von Persien, den Film "Die Sünderin", die Wiederaufrüstung, die Erfolgsserie der Fußballnationalmannschaft, den Adenauer beim Papst, beim britischen König etcetera.

Der DKW verschwand in der Senke, als der Pritschenwagen auf dem Hüppel links von uns wieder auftauchte. Es war wirklich ein Tempo, das berühmte Dreirad mit der Vorderradkette, und man sah jetzt auch, daß er einen einachsigen Anhänger hatte. Unsere Bewegung, oft erprobt, in bester Synchrontechnik die Daumen heben und langsam nach rechts drehen, beeindruckte den Fahrer wenig. Er hatte einen Maleranzug an und schaute uns voll ins Gesicht, machte jedoch keinen Versuch anzuhalten.

Ich grunzte, zog den Rotz aus der Nase und spuckte vor ihm aus. Er tuckerte vorbei wie ein Rasenmäher. Icke schrie "Verräter verrecke!" und klemmte den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger.

In dem Augenblick löste sich der Anhänger. Er stand voller Farbeimer, Kübel und Fässer, rollte noch ein Stück hinter seinem Herrchen her, und trollte sich dann. Zügig durchquerte er die Talsohle und fuhr ein Stück die andere Seite hinauf.

Links oben tuckerte jetzt der nächste Zweitakter. Es war wirklich ein DKW F8 - der mit Holzkarosserie, die mit Kunstleder überzogen war und dem 600er-Motor. Der Fahrer reagierte prompt. In einer langen Linie wechselte er die Spur. "Den kannst du auch vergessen", sagte ich. Der DKW würde sein Manöver noch nicht beendet haben, wenn er unseren Standort passierte.

Ich warf einen Blick auf den rechten Hügel. Dort schien der Maler inzwischen seinen Verlust bemerkt zu haben und ließ den Tempo rückwärts den Hügel herabrollen. Als ich wieder nach links schaute, sah ich wie der Anhänger sich querstellte und auf die linke Fahrbahn glitt.

Lauter und ätzender als das Aufprallgeräusch des DKW auf den Farbenladen war das Konzert

der Eimer und Büchsen auf der grauen Betonpiste. Sie schepperten wie in Stahlgewittern und trafen sich mit viel Getöse unten in der Senke. "Los, weg hier", rief ich und krabbelte die Böschung hinauf, wo eine Streuobstwiese lag. "Bevor die Polente kommt."

Das mag befremdlich erschienen, aber ich fürchtete ernstlich, der beknackte Maler könnte behaupten, er sei durch unsere Daumen so abgelenkt worden, daß sich der Splint in der Deichsel gelöst habe.

Auf der Piste bot sich inzwischen folgendes Bild: Der Hänger war nach einem doppelten Salto mortale auf den Rädern gelandet und stand wieder rechts, der DKW quer auf der linken Fahrbahn, und der Maler hatte sein Dreirad vor der Deichsel geparkt, so daß er sie nur noch anzukoppeln brauchte. Er war ausgestiegen und stand mit zwei Männern und einer Frau auf der Fahrbahn zwischen den Fahrzeugen und warf ihnen vor, nicht aufgepaßt zu haben.

Die Zeit stand still, die Stimmen drangen gedämpft zu uns herauf, und nach einer Weile hatte man den Eindruck, als wäre alles immer schon so gewesen: die rauchenden Männer, die dem Maler Beleidigungen zuriefen, der fluchende Maler, der seine Büchsen einsammelte, das quäkende Kleinkind im Arm seiner Mutter, und nur die Sonne war Zeuge, so grell wie eh und je.

Es war diese Idylle, in die das dritte Fahrzeug reindonnerte wie ein schwarzer Blitz aus heiterem Himmel. Der Wagen sprang förmlich über die Kuppe, und keiner hatte ihn kommen gesehen. Er schlingerte ein bißchen und steuerte dann zielstrebig auf die Lücke zu. Icke und ich schrien wie die Verrückten: "Haut ab, da kommt einer!"

Aber die Vier waren zu sehr ins Streiten vertieft. Icke warf sich auf die Wiese und legte die Hände auf die Ohren, die Reifen qualmten, und man erkannte nun auch, das war der Benz, auf den wir so lange gewartet hatten. Der mit den außen angebrachten Scheinwerfern, der noch richtige Kotflügel und Trittbretter hatte und als Benziner bergab vielleicht noch schneller fuhr als 130.

Wie es schien, versuchte der Fahrer in letzter Sekunde auszuweichen, um nicht in die Menschen zu knallen, aber das Schicksal war schneller. Der Benz raste zwar nicht direkt in die Menschen, sondern prallte auf den Hänger, der gegen das Dreirad prallte, wurde dann aber zurückgeschleudert und flog seitlich in die Lücke, und mit diesem Unfall begann gewissermaßen eine neue Ära, denn es war nach dem zweiten Weltkrieg der erste richtig schöne Unfall, der in allen Zeitungen stand, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen - sechs Erwachsene und ein Säugling.

Eine Staubwolke wirbelte auf, Geräusche waren zu hören, die an kein bekanntes Geräusch erinnerten, und erst Jahre später im Traum mischten sich auch Schreie in den Lärm - Schreie, wie ich sie gehört hatte, als wir auf der Flucht vor der Roten Armee am hellichten Tag von Tieffliegern bestrichen wurden und die Geschosse wie Regentropfen vom Kopfstein abprallten.

Als der Staub und der Wirbel und der Krach sich legten, standen keine Menschen mehr auf der Straße. Was man herumliegen sah, konnten auch die verstreuten Teile einer Altkleidersammlung sein. Nichts ähnelte einem Menschen oder einem Teil davon und nur das Stoffbündel auf dem Kühler des schwarzen Benz war vermutlich eine Leiche. Eine Leiter hatte den Wagen der Länge nach durchbohrt. Sie schaute vorne und hinten ein gutes Stück heraus, und am hinteren Ende der Leiter schien ein rotes Tuch zu flattern.

Wir starrten eine Weile auf das Durcheinander. Niemand kam irgendwo aus dem Graben gekrochen, keiner rief um Hilfe, nichts seufzte oder stöhnte. Es war, als hätte es in diesen drei Autos niemals eine Menschenseele gegeben. Es war jetzt wieder so still wie am Anfang, sogar die Grillen zirpten wieder, aber ich wußte, das bedeutete nicht viel. Auch im April 1945, als überall Kadaver herumlagen, wirkte die Gegend ungeheuer friedlich.

Den Rest der Strecke gingen wir zu Fuß, drei Tage lang, vermieden alle Ortschaften, nächtigten in Feldscheunen, und noch, als wir Hofacker betraten, rechneten wir damit, verhaftet zu werden. Nach Bayreuth fuhren wir nicht mehr. Es war wirklich zu gefährlich geworden.

Nun werden Sie sicher fragen: Woher weißt du eigentlich, daß dies der Unfall war, bei dem der Baron von Horwitz und sein Chauffeur, den wir Quasimodo nannten, ums Leben kamen? Ich weiß es nicht, denn ich hatte anderes im Kopf als mich mit Verkehrsunfällen zu befassen. Ich ging zu der Zeit schon auf's Abendgymnasium nach Kassel, fuhr morgens um sechs Uhr weg und kam erst nachts um zehne zurück. Fakt ist aber: Sie starben im Sommer 1951 auf der Autobahn Gießen-Kassel und etwa zu der Zeit stand auf dem Gutshof auch ein 170er Benz.

Schwarz und schrottreif natürlich.

Nächste Woche: "Ein Unglück kommt selten zu zweien"