Der Knoten und der Nagel

Das Wegräumen der Trümmer macht aber noch keinen reinen Tisch. Es bringt die alten Dinge wieder ans Licht, die guten wie die schlechten. Unter den schlechten sind der Rassismus und der Nationalismus. (...) In Rußland waren die Kremlexperten gerade aus dem Dienst entlassen worden, da wurden sie als Kriminologen wieder eingestellt. In Metzgereien, so die Schlagzeilen, wird Menschenfleisch verkauft und auf auf den Marktständen von Samarkand Plutonium. (...) Die Politik hat schleunigst kehrtgemacht. Die Befreiung von Vorurteilen, die sich aus dem Mißkredit der Ideologien ergeben sollte, wurde vielfach zu Skrupellosigkeit und Zynismus. Vor allem wurde das Ausmaß an Aggressivität, an Ressentiments, Grobheit und Haß im gesellschaftlichen Leben nicht geringer: im Gegenteil. (...)

Die Linke hatte ihre Klassenverankerung verloren, das heißt das Vertrauen darauf, daß die unendlichen gesellschaftlichen Widersprüche sich letztlich auf einen grundlegenden Widerspruch zurückführen ließen und daß die Arbeiterklasse durch ihre eigene Befreiung - auch ohne es zu wollen - Freiheit für alle gebracht hätte. Ersatzweise hatte die Linke einen Katalog von sozialen Subjekten erstellt, der sie legitimieren sollte, ein bißchen sozial, ein bißchen sexuell, ein bißchen generationell: die Arbeiter, die Frauen, die Jungen, die Alten. Alle.

Eine Variante oder fast schon eine Kehrseite des allgemeinen Katalogs ist die Idee von einer Linken der Behinderungen, der Minderheiten und der Normverletzungen: einer Linken der Armen, der Ungebildeten, der Einwanderer, der Geisteskranken, der Drogenabhängigen, der Gefangenen. So etwas kann leicht zu einem Sammelsurium von Einzelschicksalen und klinischen Fällen werden, ein Behelf nach dem Wegfall der zentralen Rolle der Politik. Eine neuerliche Unterscheidung der "Normalen" von den anderen.

Andererseits ist es möglich, daß uns eine Freiheit geboten wird (Freiheit, das ist das Wort, das eine Linke nie erst an zweiter Stelle nennen sollte und das sich zum Ziel der Gleichheit so verhält wie der Zweck zu einem guten Mittel). Der relative, aber gegenüber dem Rest der Welt enorme Wohlstand unserer Gesellschaften hat individuelle Gewohnheiten und Wünsche so verändert, daß sich spezifische Verhaltensweisen in ihr Gegenteil verkehrt haben, in erster Linie das demographische Verhalten. Geburten- und Sterblichkeitsraten sind heute vermutlich die exaktesten Indikatoren für den materiellen und kulturellen Wohlstand. Daß die Fortpflanzung kein biologischer Imperativ mehr ist, sondern zu einer bewußten Entscheidung wird, ist phänomenal: Es ist das umwälzendste Ergebnis des Austauschs von Natur und menschlicher Kultur. Das geht mit einem maßlosen Egoismus und Geiz einher oder aber mit der Sorge und Rücksicht für jedes einzelne Leben. Mit einer Verbarrikadierung der Normalität und ihrer Privilegien oder aber mit der Bereitschaft, in den Spiegel der Abweichung, des Gegensatzes und der Schwäche zu schauen - zur weitläufigen, verdächtigen, unglücklichen und erschreckenden Population der linken Seite -, Gegenstück zu jedem Gefühl von Kraft, Gesundheit und geregelten Verhältnissen. Eine Neigung zu bleiben, wer man ist, und sich in den anderen wiederzuerkennen. Sich die Hand zu reichen.

Adriano Sofri: "Der Knoten und der Nagel" Ein Buch zur linken Hand. Mit einem biographischen Essay von Carlo Ginzburg. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1998