Real Pulp Fiction

Wahre Detektivarbeit bietet wenig Action, dafür viel Arbeit am Detail - wie Ellroys Roman "Die Rothaarige" beweist

Als er zehn Jahre alt war, wurde seine Mutter von einem Unbekannten erdrosselt. Mit fünfzehn flog James Ellroy von der Schule, kurz nach dem Tod des Vaters entließ ihn die Army wegen Untauglichkeit. Die folgenden Jahre verbrachte er damit, sich vollzudröhnen und sich in Bücher zu vergraben. "Mein Lesen konzentrierte sich auf Krimis und Tatsachenberichte über Verbrechen. Ich las sie kiloweise", schreibt er in "Die Rothaarige", seinem neuesten Roman. Die meiste Zeit trieb er sich auf der Straße herum, brachte es auf rund 50 Festnahmen wegen Ruhestörung, Ladendiebstählen und ähnlichen Bagatelldelikten und kam schließlich für ein halbes Jahr in den Knast. Sein Alkohol- und Drogenkonsum brachte ihn fast unter die Erde, nach einer Entziehungskur begann er Ende der Siebziger, selbst Krimis zu schreiben.

Mit "Schwarze Dahlie", einem Roman um den berühmten gleichnamigen, bis heute ungelösten Mord an einer jungen Frau in den vierziger Jahren, gelang ihm der Durchbruch. Spätestens seit der Verfilmung seines Buchs "L.A. Confidential" gilt er auch hierzulande als bekanntester US-amerikanischer Hardboiled-Autor.

Der Mord an seiner Mutter bleibt für ihn das prägende Erlebnis, das er in dem autobiographischen Krimi "Die Rothaarige" verarbeitet: 30 Jahre nach dem Verbrechen nimmt Ellroy die aussichtslose Suche nach dem Täter auf - und hofft, dadurch die Gründe für seine eigenen Obsessionen zu finden: Frauen sind in seinen Romanen Opfer männlicher Gewalt, Sexobjekte und gleichzeitig gleichbedeutend mit Zuflucht. Seine Helden sind Tough Guys und Femmes fatales, ihrer Gier nach gewalttätigem und obsessivem Sex steht die Fiktion romantischer Liebe gegenüber. "In meinen Büchern sind Frauen starke, komplexe Persönlichkeiten, und die männlichen Charaktere basieren fast ausschließlich auf dieser Stärke."

Die Reise in die eigene Vergangenheit führt Ellroy in das Los Angeles der fünfziger Jahre, den Schauplatz, an dem zuvor schon seine L.A.-Trilogie spielte. Es gibt auch keinen besseren Ort für die düsteren Geschichten als die Metropole, die in den zwanziger Jahre zum Sinnbild des US-Kapitalismus wurde, und die schon Autoren wie Raymond Chandler oder James M. Cain beschrieben. In ihren Noirs finden sich die Leitmotive, die sich durch die Sozialgeschichte der Stadt und ihrer Einwohner ziehen. Die "dostojewskischen Porträts von Los Angeles", wie Mike Davis in "City of Quartz" schreibt, zeigen die Stadt als einen Ort krasser sozialer und rassistischer Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe, als Ort, an dem schneller und brutaler als anderswo Reichtum angehäuft und um seine Verteilung gekämpft wird. "L.A. ist die Kristallkugel des zukünftigen Kapitalismus", ein archetypischer Mythos, der schon Adornos und Horkheimers Schriften über Kulturindustrie als Beispiel diente.

Die Noirs leben von dem vermeintlichen Gegensatz der schönen Oberfläche und der finsteren Begierden, die dahinterliegen; von der Obsession der Macht, der die trügerische Fassade der bürgerlichen Existenz im besten Falle als Tarnung dient, um ihre Interessen zu verfolgen. Je näher man der Wahrheit kommt, desto mehr verwischen sich die Grenzen; die Bullen sind nicht besser als die von ihnen Gejagten, Macht und Reichtum der Eliten basieren auf Verbrechen, die underdogs versuchen, mit Gewalt ihren Anteil zu ergattern. Am Ende ist niemand mehr unschuldig.

Ellroys Romane kennen keinen Unterschied zwischen den persönlichen Obsessionen und der realen Welt. In "American Tabloid", (dt. "Ein amerikanischer Thriller"), 1996 erschienen, stellt Ellroy den Mord an Kennedy als ein Verbrechen dar, das nur die Fortsetzung anderer Verbrechen war - entscheidend ist nicht, wer es in wessen Interesse verübte. Entscheidend ist, mit welchen Zwängen, Gewalt und Konsequenzen die Macht operiert - und ihre Subjekte zugleich zu ausführenden Organen und getriebenen Objekten degradiert.

Die schizophrenen Persönlichkeiten von Ellroys Figuren funktionierten zu Zeiten, als vermeintliche Gegensätze noch erkennbar existierten, als die alten Spielregeln noch galten. "Stoner wurde genau zur richten Zeit Cop. Er konnte guten Gewissens schlichten Ansichten nachhängen", beschreibt Ellroy in "Die Rothaarige" den pensionierten Polizisten, der ihm bei seiner Suche hilft. Akribisch gehen die beiden jeder noch so nebensächlichen Aussage nach, pedantisch wird jeder Ermittlungsschritt dokumentiert. Nebenbei vermittelt Ellroy ein authentisches Gefühl davon, was wahre Detektivarbeit bedeutet: eine ermüdende Sammlung von Details, endlose Verhöre über belanglose Begebenheiten und ziemlich wenig Action - eben real pulp fiction. Das Buch versucht, eine ganze Biographie zu rekonstruieren - um das Verhängnis wenigstens zu verstehen. Am Ende weiß Ellroy sowenig wie zu Beginn, wieso und von wem seine Muter getötet wurde. Dafür hat er umso mehr über sich selbst erzählt - über seine manische Faszination für Gewaltverbrechen, seinen fast religiösen Sinn für Gerechtigkeit und seinen konservativen Wunsch nach klaren Strukturen in einem Meer von Obsession. In einer Welt, wo der "Kapitalismus für die Ewigkeit" geschaffen scheint, bleibt nur die romantische Illusion, einen Rest an Integrität zu bewahren.

Mit der "Rothaarigen" ist Ellroy an die Grenzen seiner bisherigen Erzählweise gestoßen. Die Spannung zwischen unterschwelliger Begierde und dem äußeren Schein löst sich auf, wenn eindeutige Pole nicht mehr zu finden sind. An die Stelle der Story, die dem Held noch die Möglichkeit einer fiktiven Gerechtigkeit läßt, tritt die Suche nach der realen Geschichte, um bei sich selbst den Frieden zu finden. Die Zeit des Noirs scheint damit zumindest für Ellroy vorbei zu sein.

James Ellroy: Die Rothaarige. Hoffmann und Campe, Hamburg 1997, 461 S., DM 48