Richter, Historiker, Komödianten

Dario Fo sorgt dafür, daß die Merkwürdigkeiten des Falls Sofri nicht in Vergessenheit geraten.

Die Nachkriegsgeschichte Italiens könnte man als eine Geschichte von Spannungen und Brüchen beschreiben, die sich durch kontinuierliche Auseinandersetzungen zwischen modernen und vormodernen Teilen der Gesellschaft ergeben.

Diese Konflikte zeigen sich bis heute nicht nur im klassischen Gegensatz zwischen Nord und Süd, Zentrum und Peripherie, sondern verlaufen auch quer durch die Institutionen des Staates. Vor allem, wenn es sich um Institutionen handelt, die aus ihrer inneren Geschichte heraus konservativ bis reaktionär geprägt sind wie Justiz, Polizei und Geheimdienste. Der andauernde Konflikt innerhalb der Richterschaft, wegen der Verfolgung der Finanz- und Korruptionsaffären der politischen Parteien ("Mani pulite") ist Ausdruck solcher Spannungen. Ein anderer ist der "Fall Sofri".

Mit dem letztinstanzlichen Urteil des Kassationsgerichtes waren im Januar 1997 nach neunjährigem Prozeßverlauf und sieben Instanzen Adriano Sofri und zwei weitere ehemalige führende Mitglieder der linksextremen politischen Gruppe Lotta Continua (LC) wegen Mordes an dem Polizeikommissar Luigi Calabresi zu Haftstrafen bis zu 22 Jahren verurteilt worden. Die Tat liegt inzwischen über 25 Jahre zurück (Mai 1972). Für die Wiederaufnahme des Verfahrens haben sich seitdem viele Intellektuelle eingesetzt. Der große linke Theatermann Dario Fo hat jetzt sogar sein ganzes Gewicht als Nobelpreisträger eingebracht und aus den Akten des Sofri-Prozesses ein Stück in Form einer Performance entwickelt: "Marino libero! Marino è innocente" (Freiheit für Marino! Marino ist unschuldig!). Zusammen mit Franca Rame setzt er vor allem die oft grotesken Widersprüche des Kronzeugen Leonardo Marino in Szene und kommentiert den teilweise absurd erscheinenden Prozeßverlauf. Der Stoff dient Fo nicht nur als Realsatire, sondern gibt ihm die Gelegenheit zu vielen schauspielerischen Kabinettstückchen, vom Einsatz der Pantomime bis zu clownesken Formen und zu "lazzi" (Pointen) aus dem Kanon der Commedia dell'arte.

Fo hat seit einem Schlaganfall vor drei Jahren einen großen Teil seines Sehvermögens verloren. Seitdem behilft er sich mit Zeichnungen und großgeschriebenen Stichworten an Stelle eines Manuskriptes - und setzt diese Blätter auf der Bühne ein wie ein Moritatensänger seinen Bilderteppich. Das hatte er mit großem Erfolg bereits bei seinem Vortrag anläßlich der Verleihung des Nobelpreises vor der Schwedischen Akademie in Stockholm so gemacht, und das führt er jetzt in seinem neusten Stück fort, indem diese Seiten mit einer Videokamera aufgenommen und auf die Bühnenwand projiziert werden. Die Zeichnungen sind auch im Textbuch wiedergegeben, das rechtzeitig zur Premiere als dickes Taschenbuch bei Einaudi zum "politischen" Preis von umgerechnet nur zwölf Mark erschienen ist. Am 16. März fand dann im überfüllten Mailänder Teatro Nazionale die Uraufführung von "Marino libero! Marino è innocente!" statt. Zwei Tage später lehnte das zuständige Appellationsgericht in Mailand den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Dario Fo zeigte sich enttäuscht, diese Entscheidung sei "ein weiteres Glied in einer Kette von Ungerechtigkeiten". Es sei kein Wunder, daß immer mehr Leute das Vertrauen in die Justiz verlören. "Schlimmer, die Leute, vor allem die Jugendlichen, wissen einfach nicht mehr, was damals vor zwanzig, dreißig Jahren passiert war." Mit seinem Stück - dessen Probenfassung bereits im Fernsehen gezeigt worden ist - möchte er historisch-politische Aufklärung betreiben. Rechtlich gibt es jetzt nur noch einen letzten Einspruch gegen die jüngste Ablehnung zur Wiederaufnahme des Verfahrens - nicht mehr als ein Fünkchen Hoffnung für die Verurteilten Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi.

Auch der Kunsthistoriker Carlo Ginzburg hat sich in einem Buch mit dem Verfahren auseinandergesetzt ("Der Richter und der Historiker - Überlegungen zum Fall Sofri", auf deutsch bei Wagenbach). Darin beschreibt er die Zweifelhaftigkeit der "literarischen" Vorgehensweisen des Gerichtes, das keine Fakten mehr abwägt - denn allen Indizien nach hätten die Angeklagten freigesprochen werden müssen. Das Gericht hielt allein die mit unzähligen Widersprüchen gespickte Geschichte des Kronzeugen Marino für glaubwürdig. Der Mord an dem Kommissar Calabresi gehört dabei in einen größeren Komplex von Kriminalität. In der gespannten politischen Situation Ende der sechziger Jahre (heißer Herbst, kommunistische Wahlerfolge) hatte ein brutaler Bombenanschlag 1969 im Zentrum von Mailand 16 Menschen das Leben gekostet. Der Anschlag ist bis heute nicht aufgeklärt, vieles spricht für die Mittäterschaft der Geheimdienste, die mit der sogenannten "Strategie der Spannungen" die Bildung eines autoritären Staates erreichen wollten. Die Polizei verfolgte aber wider besseres Wissen die Spur "anarchistische Gruppe". In diesem Zusammenhang wurde der Eisenbahner Giuseppe Pinelli festgenommen. Er stürzte aus nie geklärten Gründen aus dem Fenster des Büros von Kommissar Calabresi in den Tod.

Lotta Continua mit Sofri an der Spitze machte daraufhin Calabresi für den "Mord" an Pinelli verantwortlich. Dario Fo hat diesen Fall in seinem inzwischen berühmten und überall nachgespielten Stück "Zufälliger Tod eines Anarchisten" behandelt. Die Art und Weise, wie Dario Fo und Franca Rame mit ihrem politischen Theater damals in die öffentlichen Auseinandersetzungen eingriffen, mußten sie mit Prozeßandrohungen, Einschüchterungsmaßnahmen und zum Teil brutaler Unterdrückung bezahlen. Trauriger Höhepunkt war schließlich ein Überfall auf Franca Rame im März 1973, bei der die engagierte Schauspielerin von vier Neofaschisten verschleppt und vergewaltigt wurde. Erst jetzt, im Februar 1998, kamen Unterlagen ans Licht, die den lange gehegten Verdacht bestätigten, daß dieser Überfall von einem Carabinieri- Kommando initiiert worden war. Lotta Continua löste sich 1976 auf. Bekannte Mitglieder, von Alexander Langer (1995 verstorben) bis Enrico Deaglio, Marco Boato, Luigi Manconi oder Franca Fossati, fanden auf verschiedenen Wegen "zurück" in die intellektuelle Elite der bürgerlichen Gesellschaft. Im Kulturbereich, in den Medien, aber auch in der Politik (bei den Grünen) haben viele Ehemalige ehrenwerte Karrieren gemacht.

In einem gewissen Sinn ist Adriano Sofri für politisch rechte Kreise zum Symbolfigur dieses Erfolges geworden. Er arbeitete bis zu seiner Verhaftung als Journalist und Publizist und gab im Sellerio Verlag (Palermo) eine Buchreihe heraus. Jetzt ist im Eichborn Verlag die Übersetzung seines blendend geschrieben historisch-politischen Essays "Der Knoten und der Nagel. Ein Buch zur linken Hand" erschienen. Sofri hat längst auch öffentlich von den radikalen Positionen der frühen siebziger Jahre Abstand genommen. Damals war die außerparlamentarische Bewegung um Lotta Continua eine Zeitlang als Bedrohung des politischen Systems angesehen worden - jedenfalls von den Gruppen, die sich gerne mit dem Staat gleichsetzen. Jetzt scheint ein Schlußstrich unter die Geschichte gezogen. Jedenfalls in den Augen der Justiz. In dem ganzen Komplex (Bombenanschlag Piazza Fontana, Tod Pinellis, Mord an Calabresi) gibt es nach fast dreißig Jahren nur drei rechtmäßig Verurteilte im Namen des italienischen Volkes: die drei Führer von Lotta Continua. Die Justiz schreibt Geschichte. Oder, wie Ginzburg es formuliert hatte: die Richter haben ihre Rolle verlassen und wie Historiker mögliche Wahrheiten erzählt.

Dafür, daß die Geschichte dennoch nicht abgeschlossen werden kann wie ein Gerichtsverfahren, sorgt Dario Fo. Er zieht mit seinem Stück gerade durch Italien und möchte es bald auch in Deutschland und Frankreich zeigen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, daß ein Dramatiker weise urteilt, während sich Richter wie Schmierenkomödianten aufführen.

Henning Klüver arbeitet an einer Biographie Dario Fos und lebt in Mailand