Wahngeschaffene Welt

An der Revolution von 1848 nahmen nur wenige Turner teil. Vater Jahn wußte, warum

So verläuft Geschichte. Am 3. April 1948, vor 150 Jahren, wurde in Eßlingen der Deutsche Turnerbund (DTB) gegründet. Am 4. April dieses Jahres wird dieses Jubiläum in Hanau groß gefeiert. Schließlich kann einer der wichtigsten Gründungsaufträge, der Paragraph zwei der alten Statuten, nach dem es "Zweck des Turnerbundes ist, für die Einheit des deutschen Volkes thätig zu sein, den Brudersinn und die körperliche und geistige Kraft des Volkes zu heben" als erfolgreich vollbracht gelten.

Doch nur drei Monate nach jenem 3. April 1848, am 3. Juli desselben Jahres, hatte sich der Turnerbund, die Sitzung fand wie das diesjährige Jubiläum in Hanau statt, gespalten: Republikanisch gesinnte Turner wollten mit den monarchistischen Turnern nichts mehr zu schaffen haben und gründeten den "Demokratischen Turnerbund". Sein Ziel war "der volkstümliche Freistaat - die demokratische Republik". Der Demokratische Turnerbund verschwand schon 1850 wieder, denn der DTB, der ja "für die Einheit des deutschen Volkes tätig" war, setzte sich mit seiner Haltung durch, die "Satzung und den Bund frei von Politik zu halten". Die von den Demokraten angestrebte Errichtung eines gemeinsamen "Allgemeinen Deutschen Turnerbundes" blieb folgenlos.

Die demokratischen Turner waren es, die aktiv an der 1848er Revolution teilnahmen - aber allzu viele waren es nicht. Beim Heckerputsch 1848 kamen die "Turnerscharen" erst spät hinzu, beim Kampf für die Reichsverfassung in der Rheinpfalz 1849 aber waren sie am Barrikadenbau beteiligt, und auch beim badischen Aufstand wurden Turnereinheiten gesichtet. Auch der junge Friedrich Engels war Adjutant einer Turnerkompanie. Einzelne Anführer, die aus Turnvereinen kamen, wie Gustav Struve in Baden, Otto Heubner in Dresden und August Schärttner in Hanau, wurden zu mittleren Berühmtheiten. Heubners Turner etwa waren dabei, als im Mai 1849 Dresden gegen preußische Truppen verteidigt wurde.

Die Turner, die aktiv für die Republik stritten, stellten aber nicht die Mehrheit in der deutschen Turnbewegung, und ihre Aktivsten gingen nach dem Scheitern der Revolution ins Ausland - die Mehrheit der Turner orientierte sich am DTB und den Ideen des Friedrich Ludwig Jahn (1778 bis 1852), der selbst zwar 1848 keinen Einfluß nehmen konnte - sein kurzfristiger Auftritt in der Paulskirchenversammlung wurde mit Hohngelächter quittiert -, dessen Ideen vom gleichermaßen monarchistischen, franzosen- und judenfeindlichen sowie rein männlichen Turnen jedoch weiterwirkten. Wer "seinen Töchtern Französisch lehren läßt, so ist das eben so gut, als wenn er ihnen die Hurerei lehren läßt", gehört zu Jahns in holprigem Deutsch vorgebrachten Weisheiten, wie auch dieser Satz: "Alle Erziehung ist aber nichtig und eitel, die den Zögling in dem öden Elend wahngeschaffener Weltbürgerlichkeit als Irrwisch schweifen lässet, und nicht im Vaterlande heimisch macht." Oder der: "Wer wider die Deutsche Sache und Sprache freventlich thut oder verächtlich handelt, mit Worten oder Werken, heimlich wie öffentlich - der soll erst ermahnt, dann gewarnt, und so er von seinem undeutschen Thun und Treiben nicht ablässet, vor jedermann vom Turnplatz verwiesen werden." Oder, letztes Beispiel, dieser: "Keiner darf zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich Verkehrer der Deutschen Volksthümlichkeit ist, und Ausländerei liebt, lobt, treibt und beschönigt." Auf den Umstand, daß es auf einmal rote Turner gab, freilich nie die Mehrheit, reagierte der Patriarch, der zu Recht "Turnvater" genannt wird, mit Abkehr. "Ich bin zur Veränderung zu alt und zu fest", heißt es in einem Brief, den er an 1848 an radikaldemokratische Turner in Limburg an der Lahn schrieb, "ein Roter werde ich nicht. Meine Gesinnung gebe ich nicht auf - aber, um niemandem hinderlich zu sein, allen Verkehr mit den Turngemeinden. Die gebe ich auf." Daß sich die Jünglinge, für die er 1811 in der Berliner Hasenheide einen Turnplatz erbauen ließ, plötzlich gegen die von ihm verehrten Hohenzollern wandten, verstand Jahn nicht: "Die Republik selbst ist ein wahngeschaffenes Trugbild", heißt es in einem anderen Brief.

Daß bei soviel vom Turnvater persönlich repräsentiertem Zeitgeist die wenigen demokratischen Turner lieber in die USA emigrierten, erscheint als ein sehr moderner Schritt. Und statt der Turnerscharen, die in Deutschland Bestandteil des Volksheeres werden sollten, schlossen sich in den USA viele Turner den Armeen der Nordstaaten im Bürgerkrieg an. Das "32. Indiana Freiwilligen-Infanterieregiment" etwa wird auch das "First German" genannt, weil es aus deutschen Immigranten und Nachkommen deutscher Siedler bestand, die 1861 aus "Turner Clubs" verschiedener Städte rekrutiert wurden. In Deutschland war zu dieser Zeit die Turnbewegung gerade mit dem "Barrenstreit" beschäftigt, um den Einzug der Gymnastik des schwedischen Pädagogen P.H. Ling in deutsche Turnhallen und auf deutschen Turnplätzen zu verhindern. Der "Barrenstreit" heißt so, weil preußische Militärs u.a. den Barren, eines der Turngeräte, die Jahn erfunden hatte, aus dem Militär- und Schulunterricht verbannen wollten. Auch wenn etliche Historiker den "Barrenstreit" als Kampf zwischen liberaler Bourgeoisie und reaktionärem preußischem Beamtentum darstellen, den die fortschrittlicheren Barrenfreunde schließlich gewannen, so ist doch ein unmittelbares Ergebnis der Zusammenschluß der deutschen Turnvereine zur Deutschen Turnerschaft (DT) im Jahr 1868, zwanzig Jahre, nachdem der erste Dachverband gegründet worden war, und die DT Iieß dann gar keinen Zweifel mehr zu, wie er war: kaisertreu, deutsch, aber immer unpolitisch.