Kaspar ist tot

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.

Wer hält es jetzt hoch, das Januar-Manifest?

Fordert allen Ernstes die Gaudi?

Die Avantgarde von gestern ist comme il faut. Die künstlerische Linksfront ist ein Wahrheitsproblem. Gruppe Spur. Deutsche Sektion der Situationistischen Internationale.

Wer all dies nicht versteht, will es nicht verstehen und untermauert nur die Wahrheit dieser Sätze:

Gleichzeitig entpuppt er sich als devoter Befehlsempfänger gesamtgesellschaftlicher Dogmen. Subversive Aktion.

Aufruf an die Seelenmasseure

IHR suggeriert den Leuten die Bedürfnisse ein, die sie nicht haben!

IHR habt die Lüge / consumo, ergo sum / zur Wahrheit inthronisiert!

Nach einem kurzen Moment allgemeiner Erstarrung bricht ein Tumult unter den aufgebrachten Werbeleitern aus.

An die Lämmer des Herrn!

"Wenn auch Ihnen das Mißverhältnis von Analyse und Aktion unerträglich ist, schreiben Sie unter dem Kennwort 'Antithese' an 8 München 23, Postlagernd. Verantwortlich Th. W. Adorno, 6 Frankfurt/Main, Kettenhofweg 123."

Unverbindliche Richtlinien.

Mikrozelle

Selbstausschluß, dann ein von der Tagungsmehrheit angenommener Antrag auf Ausschluß

In München bei Ausschreitungen vor dem Amerikanischen Generalkonsulat festgestellt, wobei er Glasbehälter mit roter Flüssigkeit warf

die es wirklich betrifft

die ausscheiden oder ausgeschieden werden

Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen:

Unsere Praxisvorstellungen können im Moment nur als diffus bezeichnet werden. Sind die divergierenden Konzeptionen durch konzentrierte Praxis aufgehoben, bleibt nicht ausgeschlossen, daß diese eine falsche war

Geplant Berlin: Bombenanschlag auf US-Vizepräsidenten. Elf Verschwörer gefaßt

Zwangsgestellt vorläufig festgenommen Verteiler von beleidigenden Flugblättern Zwangsgestellt Erkannt Hervorgetreten als Störer

Neu! Unkonventionell! Neu! Unkonventionell!

Warum brennst Du, Konsument?

Ich erwäge, gegen Sie Anklage vor der großen Strafkammer des Landgerichts Berlin wegen Aufforderung zur menschengefährdenden Brandstiftung zu erheben

Hinsichtlich der späteren, vielleicht recht bald eintretenden erbrechtlichen Regelung sind die notwendigen Schritte in die Wege geleitet

Gegen diesen Bescheid ist die Klage vor dem Verwaltungsgericht gegeben

Name: Kunzelmann Dieter Straftat Auflauf Tag des Eintritts in das hiesige Gefängnis 23. Okt. 1967 Strafdauer vom 21.10.67 bis 10.11.67

Erklärung! 2) wer sich am Fenster aufhält oder an den Gitterstäben zu schaffen macht, Gegenstände aus dem Fenster wirft, sich durch Rufen oder Zeichen

Setzte sich das Barett des Vorsitzenden auf und wirbelte die Akten durcheinander. Im Würgegriff

Zuhören - Ihr Murmelgreise und Schleimscheißer des "Rechts"!

Berliner, das geht Alle an, raus mit Dutschke, Teufel, Kunzelmann!

Ein Steinhagel vor dem "Unergründlichen Obdach für Reisende", dann Amman

Hier ist alles sehr einfach. Der Feind ist deutlich.

WEH UNSER GUTER KASPAR IST TOT

Kleiner Pressespiegel vom 4./5. April 1998:

Kunzelmann legte eine Bombe, eine ziemlich echte. Über die Gefährlichkeit des Sprengkörpers gehen die Meinungen weit auseinander. Urteil: neun Jahre. (Tagesspiegel)

Er ging in den Untergrund, wurde gefaßt und saß acht Jahre im Gefängnis. (Berliner Zeitung, Seite 10)

1970-75 Haftstrafe nach Brandanschlägen. (Berliner Zeitung, Seite 17)

Kunzelmann wurde wegen seiner 1970 beim Berliner Juristenball gelegten Bombe in erster Instanz verurteilt, in der Revisionsverhandlung freigesprochen. (FAZ)

WEH UNSER GUTER KASPAR IST TOT

Er war der ideale Abgeordnete. Er war nicht nur gerne Abgeordneter, er war begeisterter Abgeordneter. Das kleine Zimmerchen im Rathaus, das Telefon, von dem er aus kostenlos telefonieren konnte, der bescheidene Teil seiner Diäten, den er nicht an seine Partei abführte, all das machte ihn restlos glücklich. Nie hat jemand freudiger seinen Ausweis gezückt, ja, er stand im Dienst des Volkes, ja, überall, mit offenen Augen und Ohren trat er ständig und überall, einfallsreich, mündlich wie schriftlich durch und durch überzeugend, rhetorisch abwechslungsreich, findig, handfest und clever für den kleinen Wähler ein, selig trat er die Pedale der Geschäftsordnungsanträge, um z.B. dann wieder, auf sorgsam geplanten Hintertreppenschleichwegen in den Gang der Gefängnisküche Tegel zu gelangen, die Türen aufzureißen und die versteinerten Beamten, die dort wieder einmal alles mit hochgiftigem Lindan ausspritzten, auf der Stelle zur Rede zu stellen!!! Stante pede zur Verantwortung zu ziehen!!!! Le pouvoir démocratique! Er vollbrachte das Unmögliche, einem Lichtstrahl gleich brach irre Hoffnung in deutsche Wählerseelen, diese Begeisterung teilte sich mit, diese anhaltend frohe Erregung, ein Mirakel, ein Abgeordneter, der sich nicht über sein Los beklagte und nicht nach der ranzigen Salbe der Verantwortung stank - ein Dichter müßte man sein, dieser seltenen Erscheinung gerecht zu werden: Ein schaffensfroher, angenehmer Politiker! Ein munterer Kaspar, ein herrlicher Kaspar; er wurde sogar noch ein besserer Kaspar, denn er wurde ein wirklich guter Kaspar, alles Böse, was einem Kaspar mit großer Nase und giftgrünen Augen und klatschender Pritsche nun einmal innewohnt - denn ein Kaspar ist schließlich kein Clown! Ein Kaspar kennt keinen Humor! - hier bekamen es die Richtigen zu spüren, die Intriganten aus Ost und West, wenn er sein Rathaus betrat, seinen Amtssitz; denn hier war er an seinem Platz, auf seiner Bühne, auf der er mit einer Selbstverständlichkeit agierte, die bewies, daß er für dieses Theater geschnitzt war, um dem Bösen immer neue Schnippchen zu schlagen, dort, wo sonst nur zähe Tragödien des Selbstbetrugs abgenudelt werden, wo mit zusammengebissenen Zähnen, verdrehter Krawatte und geföntem Scheitel das kleinere Übel sich in den Abort der öffentlichen Meinung erbricht ...

HEILIGER BIMBAM KASPAR IST TOT

Grundsteinlegung Potsdamer Platz: "Ich sah ihm direkt in die Augen, ich lag ja auf der Kühlerhaube, und hintär däär Windschutzscheibäää sah ich direkt in seinä Augen, und weißt du, was ich da sah, wie ich mit dem Ei ausholtääää? Weißt du, was ich da sah?!" Ein Ausdruck allerhöchster, himmlischer Genugtuung - " Das war Todäsangst, das war eindeutigää Todäääsangst!!!"

WARUM HAST DU UNS VERLASSEN.

IN WELCHE GESTALT IST NUN DEINE

SCHÖNE SEELE GEWANDERT

Er wird weiter durch unsere Träume spuken mit seinen Anrufen ("Sag mal, wo steckst du, ich bin ganz in der Nähe, und jetzt bist du nicht zu Hause"), winken wird er, wenn wir müde im Morgengrauen durch das Atelierfenster sehen (inzwischen sind wir umgezogen, vor dem Fenster, wo früher die Hochbahn hielt, von derem Bahnsteig er manchmal überraschend unsere Vornamen herüberschrie, glänzen jetzt Hunderte von Kastanienknospen), in einem cremefarbenen Sommeranzug, im knöchellangen schwarzen Tuchmantel, ein Grinsen unter der Sonnenbrille, plötzlich vermeinen unsere Nasen, die Apfelschnitze zu riechen, mit denen er seinen schwarzen Tabak feuchthielt vor dreißig Jahren, das sardonische Lächeln, es will nicht verblassen, mit dem er die Gummierung ableckte, als säße er auf einer verlassenen chilenischen Eisenbahnstation, wippend vor Erregung in Stiefeletten (der Pädagoge, der durch sein Vorbild mitreißen will zum Tabubruch), in Röhrenhosen (für ihn waren sie der letzte Schrei, als schon längst die Mauer gefallen war), plötzlich war man wieder elf und bekam rote Ohren, weil Großvater so laut schrie im Museum und plötzlich die Vorhänge zuzog und sich so übertrieben freundlich beschwerte oder erkundigte an der Kasse, unvergeßlicher, idealer Großvater (nie Opa, Quatsch, Verniedlichung) mit dem imposantesten Terminkalender der Welt, wie hatte er auf dem Kommuneschreibtisch die Stempelkarusselle tanzen lassen ("Weiter so!"), wie gedankenschwer arbeitete er sich, die fuchsroten Bartspitzen zwirbelnd, durch seine Sympathisantenkartei, und dann, mittags im Sommer an einem Tisch im Freien, ach, wie glücklich war er da, wenn er mit der Bedienung scherzte und wie glücklich über eine gelungene Sonderbestellung von Bratkartoffeln, die es nur für ihn gab ("Das werde ich Ihnän nie vergessään, meine Damääää"), wie melancholisch pfiff er in der Arrestzelle Melodien aus "Viva Maria", ein süß vibrierender Ton im gekachelten Raum, wie lag er auf der Spielwiese im tief erschöpften Schlaf mit tauben Händen, mit blauroten Einschnitten an den Handgelenken von den brutal angezogenen Handfesseln, weitergeistern wird er unter uns, tot, lebendig, was heißt das schon, es konnte sein wie im Schlaf, wenn man ihn wiedertraf auf der Straße nach Jahren ("Sag mal, bist du kleiner geworden oder was?!!!" - mit der Bestimmtheit eines Irrenarztes, da half kein Leugnen - "Doch, du bist kleinär gewordään!"), immer begeistert vom öffentlichen Leben der Stadt, von jeder Krankenwagensirene, für einen wie ihn war & ist immer was los, mit allem in Beziehung bis an die Grenze der Paranoia und darüber hinaus, ein Geist dieser Stadt, eine ihrer verlorenen Seelen (sein lächerliches Berlinern ooch), gekränkt oft, enttäuscht, dann wieder großzügig verzeihend, von oben herab, welch ein Kind auch, immer mit tausend Sachen im Kopf, immer unterwegs, aber glücklich, immer im Gefühl, das Richtige zu tun oder es wenigstens zu versuchen, immer wieder, Haschisch, der Weihrauch der sich übers ganze Jahr hinziehenden Maiandachten des schon immer Junggebliebenen, und dann die halluzinogenen Pilze, seit drei Tagen nichts mehr gegessen, jetzt setz dich erst einmal hin und iß was!!! (möglichst scharfe Mutterstimme, darauf reagierte er stets brav), begleitet von geteilten Erinnerungen, umgeben von vergessenen Toten, umgekommen bei einem Bombenangriff auf ein Palästinenserlager, identifiziert anhand eines Gebisses, auf der Straße erschossen, Freitod, überraschend jung und schlank, wie er in Boxershorts mit Storchenbeinen bei offenen Fenstern, vor denen er gerade Wäsche aufgehängt hatte, im Spätsommer durch seine Wohnung stakste, im letzten Sommer, der kein Ende nehmen wollte -

SEINE BÜSTE WIRD DIE KAMINE ALLER

WAHRHAFT EDLEN MENSCHEN ZIEREN

(Die Zeilen in Großschreibung stammen aus dem Gedicht "Kaspar ist tot" von Hans Arp, 1887-1966)