Kein Lorbeer für Papon

Der Vichy-Kollaborateur und Ex-Minister Papon wurde zu zehn Jahren Haft wegen "Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschheit" verurteilt, die er vorläufig nicht absitzen muß

Das Urteil gegen Maurice Papon, das am Abend des 1. April fiel, frappiert: Der Angeklagte, der beschuldigt wird, die Deportation von 1 700 Juden während der Jahre 1942 bis 1944 organisiert zu haben, erhielt zehn Jahre Haft für "Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschheit" im Sinne des Nürnberger Tribunals. Papon wurde von den Geschworenen einer solchen Beihilfe, nicht jedoch - so der dritte Anklagepunkt - des Mordes für schuldig befunden. Der Staatsanwalt hatte auf 20 Jahre plädiert, während die Anwälte der Zivilkläger - letztere meist Hinterbliebene von Holocaust-Opfern - lebenslänglich gefordert hatten.

Der Unterschied auf symbolischer Ebene ist groß, auf praktischer Ebene jedoch gering: Der 87jährige wird das Ende seiner Haftzeit so oder so kaum erleben, zudem ist fraglich, ob er nicht ohnehin Haftverschonung erhält. Bis über seine Berufung entschieden wird, - bleibt er auf freiem Fuß: Das Gericht hatte zu Prozeßbeginn, was unüblich ist, entschieden, daß der Beschuldigte die Prozeßdauer nicht in Haft verbringen muß (Jungle World, Nr. 42/97).

Zwei Tage später wurde Papon zwar im anhängenden Zivilverfahren zusätzlich zu einer Schadensersatzzahlung von 4,6 Millionen Franc (knapp 1,5 Millionen Mark) an die Angehörigen der Opfer verurteilt, doch wird ihn auch diese Strafe kaum treffen: In weiser Voraussicht hatte er "vor Prozeßbeginn seine Zahlungsunfähigkeit organisiert", so Anwalt Zaoui, und seine Besitztümer - vor allem Häuser und Grundstücke - auf seine drei Kinder überschrieben.

Scheint das Strafmaß im Verhältnis zu den vorgeworfenen Taten in krassem Mißverhältnis zu stehen, so zeigte der Prozeß tatsächlich die auf den ersten Blick bestehende Widersprüchlichkeit der Rolle Maurice Papons auf. Die Schutzbehauptungen Papons wurden - eine nach der anderen - widerlegt. Die Behauptung, der Staat Israel habe ihn zu Anfang der sechziger Jahre wegen seiner Verdienste um die Rettung von Juden mit einer Uzi-Maschinenpistole beschenkt, entpuppte sich schnell als Bluff: Es handelte sich um eine gewöhnliche Werbegabe der israelischen Armee. Und Papon hatte die MP seinerzeit als amtierender Polizeichef der französischen Hauptstadt ohne Berücksichtigung seiner Person und Vergangenheit erhalten.

Doch andererseits wurde die Verteidigungslinie Papons, wonach er während der Dauer von Krieg und Vichy-Regime Kontakte zur Résistance gepflegt habe, niemals vollständig eingerissen. Eine Reihe prominenter Ehemaliger der Résistance - meistens solche, die in hohe gesellschaftliche Positionen aufgerückt waren - sagten als Zeugen der Verteidigung zur Entlastung Papons aus, so etwa die Industriellen Aimé Aubert (der Papon tatsächlich erst 1958, als er Generaldirektor des Unternehmerverbands CNPF war, kennengelernt hatte) und Francis Tesseron.

Immerhin wurde öffentlich, daß Maurice Papon nach der Befreiung 1944 im Staatsdienst befördert worden war - auf ausdrückliches Betreiben von General de Gaulle, jedoch gegen den Willen des örtlichen Befreiungskomitees.

Dieses Bild scheint widersprüchlich - ist es aber bei genauerem Hinsehen nicht. Papon hat zumindest gegen Kriegsende, angesichts der zunehmend unsicheren Zukunftsaussichten des Vichy-Regimes, ein doppeltes Spiel versucht, und vermutlich hat er sich den Gaullisten damals nützlich gemacht. Für Papon stellte dies kein grundsätzliches Problem dar: Seine Teilnahme an der Juden-Politik Vichys - und der dahinterstehenden Besatzungsmacht - war nicht auf ideologische oder leidenschaftliche Triebkräfte gegründet.

Einer der Anwälte der Zivilkläger, Arno Klarsfeld, stellte zu Recht fest: "Papon teilte die Ideologie zwar nicht, wies keinen Mordwillen auf, aber er akzeptierte in voller Kenntnis, das wirksame Instrument dieses völkermörderischen Hasses zu werden." Kurz: Papon war ein Bürokrat, der den Befehl von oben um des Befehls willen ausführte und für den die Staatsmacht sich automatisch und immer im Recht befand.

Den Gaullisten schienen nach ihrer Übernahme der Staatsgeschäfte 1944 solch effektive Beamte von Nutzen zu sein. Ihr kurzfristiges Ziel war es, Frankreichs gefährdeten Status als Groß- und Kolonialmacht wiederherzustellen. Mit den Kriegen in Indochina (ab 1946) und später in Algerien (ab 1954) bekam das Kolonialimperium dennoch Risse, und die Nachfrage nach Männern, die ohne Fragen und Gewissensskrupel "durchgreifen" konnten, stieg. So wurden seit der Indochina-Intervention frühere SS-Angehörige als Unteroffziere in die französische Armee reintegriert. Maurice Papon, der in den Siebzigern zum Minister aufstieg, verdiente sich seine Nachkriegslorbeeren als Pariser Polizeipräfekt während des Algerienkrieges - mit der blutigen Unterdrückung einer Demonstration der algerischen Bevölkerung in Paris (am 17. Oktober 1961 mit über 200 Todesopfern). "Sie sind derselbe Beamte geblieben: 1942 in Bordeaux, 1956 im (algerischen) Constantine und 1961 in Paris", sagte der Zivilkläger, Anwalt Tubiana, zum Angeklagten.

Der französische Nachkriegskonsens und die proklamierte "nationale Aussöhnung" fußte also auf der Reintegration eines Teils der ehemaligen Täter - zumindest jener, die nicht bis ins Mark von der faschistischen Ideologie geprägt waren und somit für den Staat recycled werden konnten. Um dies zu legitimieren, breitete der Gaullismus die Decke einer Legende über die Geschichte: "Alle Franzosen waren bei der Résistance, Frankreich als solches war Opfer der deutschen Nazis."

Gegenwärtig läßt sich beobachten, wie diese Legende brüchig wird. Eines der Symptome ist der Prozeß gegen Papon, der als erster hoher französischer Beamter unter Vichy wegen "Verbrechens gegen die Menschheit" angeklagt war.

Ein weiteres Symptom ist der Zerfall der bürgerlichen Rechten, von dem die Neogaullisten des RPR derzeit weniger betroffen sind als die liberal-konservative UDF, die sich der Anziehungskraft des neofaschistischen Lagers nicht entzieht.

Der Front National, der den Papon-Prozeß als Angriff auf einen französischen Patrioten verkauft, benutzt das Verfahren, um sich larmoyant in Szene zu setzen. So bezeichnete sich Jean-Marie Le Pen im Februar dieses Jahres, als er wegen Gewalttätigkeiten gegen eine sozialistische Politikerin vor Gericht stand, als Opfer eines "Papon-Prozesses en miniature" und stellte den Angeklagten von Bordeaux und seine eigene Person zugleich als Märtyrer auf eine Stufe.

Mit einer dramatischen Geste hatte der Präsident des RPR, Philippe Séguin, kurz nach Prozeßbeginn im Oktober 1997 versucht, den überkommenen nationalen Konsens im Sinne des (historischen) Gaullismus wieder aufleben zu lassen: "Zwei Prozesse", schrieb Séguin im Figaro am 21. Oktober 1997 unter der Überschrift "Genug! Genug! Genug!" würden sich hinter dem Papon-Verfahren, das nur "ein Vorwand" sei, verstecken: "Erstens der Prozeß gegen den Gaullismus, gegen den General de Gaulle, der schuldig gemachte würde, hohe Vichy-Funktionäre nicht abberufen zu haben." Und "zweitens den Prozeß gegen Frankreich, das insgesamt für die Vichy-Verbrechen verantwortlich sein soll. Es handelt sich ohne Zweifel um einen neuen Revisionismus, der sich da entwickelt und der leugnet, daß der General de Gaulle, die Résistance, die Befreiungsarmee jemals existiert haben."

Anstatt, so Séguin, "Frankreich und die Republik unendlich, ewig, in diesem Geist der Selbstgeißelung vor Gericht zu zerren" und anstatt "die Franzosen gegeneinander aufzubringen und ihre Augen auf die Vergangenheit zu richten", solle man sich lieber um die Zukunft des Landes bemühen. Séguin warf explizit der regierenden Linken vor, den Papon-Prozeß auszunutzen, um "die republikanische Rechte" zu zerstören und als einzige Alternative zu den Sozialisten "den Front National aufzubauen".

Séguins Vorstoß steht in diametralem Widerspruch zur Rede seines Parteifreundes Jacques Chirac vom Juli 1995 - anläßlich des Jahrestages der großen Juden-Razzia in Paris im Jahre 1942 -, mit der sich erstmals ein Präsident, der aus Altersgründen nicht mehr perönlich in die Vichy-Kollaboration verwickelt war, klar zur französischen Beteiligung an der antisemitischen Vernichtungspolitik bekannte. Doch ausgerechnet ein Sozialist kam Séguin sogleich mit Kritik an Chiracs damals geäußerter Haltung zu Hilfe. Der linksnationalistische Innenminister Jean-Pierre Chevènement äußerte im Oktober 1997: "Ich weiß nicht, ob der Staatspräsident wohl ermessen hat, was er an jenem Tag sagte, als er erklärte, daß Frankreich - ja, Frankreich! - etwas Nicht-Wiedergutzumachendes begangen habe."