Road to Lynchville

In "U-Turn" entdeckt Oliver Stone den Horror der Kleinstadt

Eine unsinnige, aber widerstandslos hingenommene Konstante der Filmrezeption ist das Phänomen, daß überzeugte David Lynch-Fans Oliver Stone hassen. Mit Stones neuem Film wird deutlich, warum - und warum es noch viel komplizierter ist.

"U-Turn" beginnt wie ein Roadmovie: Der amerikanische Westen, eine Landstraße, ein Mann, ein Auto, drogengeschärfte Wahrnehmung. Bobby Cooper (Sean Penn) ist mit einer prall gefüllten Tasche auf dem Weg nach Las Vegas, um irgend einem Mafioso einige Tausend Dollar Wettschulden zu bezahlen, als der Wagen mitten in der Wüste verreckt und gerade noch ins nächste staubschwangere Kaff rollen kann. Der Automechaniker (Billy Bob Thornton) versichert ihm, der geplatzte Kühlerschlauch sei im Nu ausgewechselt, und rät Cooper, drüben im Ort mit dem Namen Superior etwas zu essen.

Dort trifft Cooper einen blinden Indianer (Jon Voight), der ihn gleich herumkommandiert; den Sheriff (Powers Boothe), dem jeder Fußgänger verdächtig erscheint, und eine hispanische Schöne, Grace McKenna (Jennifer Cooper), die ihn einlädt, mit ihr nach Hause zu kommen, wo Cooper auf ihren gut doppelt so alten Mann Jake (Nick Nolte) trifft, der ihn kurzerhand aus dem Haus wirft.

Direkt nach dieser kurzen Exposition der Hauptfiguren darf das Drama beginnen. Jake McKenna gabelt Cooper mit dem Auto an der Straße auf, wirbt um sein Verständnis und bietet 20 000 Dollar, wenn Cooper bereit ist, die Ehefrau des Alten umzubringen, da sie mit jedem Mann der Stadt ins Bett gehe. Als jemand Cooper seine Geld-Tasche zerschießt, willigt er ein, den Mord zu begehen.

Als er in einem geeigneten Moment zur Tat schreiten will, kneift Cooper und läßt sich im Gegenzug von Grace dazu verführen, deren Mann Jack umzubringen und samt 100 000 Dollar mit ihr zu verschwinden. Es ist nicht der letzte abrupte Seitenwechsel in diesem Film, und mit jedem weiteren Spielzug der Personen folgen auf jedes Quentchen Übereinkunft an anderer Stelle noch unheilvollere Verstrickungen. So potenziert sich die Zahl der Verfolger: Vom Automechaniker, der, anstatt den Wagen zu reparieren, ihn auseinandernimmt und ständig mehr Geld fordert, über einen russischen Geldeintreiber des Gläubigers in Las Vegas bis zum eifersüchtigen Dorf-Elvis (Joaquin Phoenix), dessen keckes Nymphchen (Claire Danes) sich Cooper an den Hals wirft. Und wie zu beweisen war, sind die Gesetze der Natur erbarmungslos: Als der aufgewirbelte Staub sich wieder legt, hat das Städtchen einige Einwohner weniger.

Alles geklaut! jault nun der Lynchianer und verweist auf "Blue Velvet", "Twin Peaks" oder "Wild at Heart" - postmodernes Durcheinander von anderer Leute Arbeit, wobei der Fan das Attribut "postmodern", wohlwollend gewendet, ansonsten gern für Lynch reklamiert.

Gemeint ist damit, daß Stone einmal mehr ein zähes Pasticcio auf die Leinwand wirft, das zunächst überladen wirkt. Auf den zweiten Blick jedoch werden die inneren Texturen, Verästelungen und Verklettungen des heterogenen Materials sichtbar, die sich überlagernden und durchscheinenden Schichten, die nicht auf eine Ebene breitgewalzt werden. Eine "Hommage an den Film noir der Vierziger" sei "U-Turn", wirbt das Presseheft, und doch ist der Film nicht nur das, sondern - wie "Natural Born Killers" und "Nixon" - vor allem eine wilde Montage von Versatzstücken aus Film, Literatur, Geschichte und Gegenwart, die nur deshalb opulent wirken könnte, weil Stone die mannigfaltig zusammenhängende Welt der Phänomene nicht analytisch filetiert, didaktisch isoliert und entschärft, sondern genau in der zusammengebackenen Pastosität auf die Leinwand drückt, in der sie auch in der äußeren Wirklichkeit erscheint.

Mit seiner speziellen Technik der Collage - die gerade nicht postmodern, sondern unverzichtbares Element der modernen Kunst ist - umgeht Stone die Instanz des menschlichen Bewußtseins, die eine bedrohliche komplexe Realität auf maßvolle Begriffe aufteilt, zurechtstutzt und so goutierbar macht, sondern inszeniert die Wucht der mit Geschichte angereicherten, wildwuchernden Wirklichkeit. Ein Verfahren, das bereits in "Natural Born Killers" angewandt wurde, und natürlich in "Nixon", Stones Opus Magnum, einem Werk, das weit entfernt davon, sich mit dem Menschen Nixon aufzuhalten, nichts weniger als eine umfassende Charakterstudie des Landes Nixon entwirft.

Im Fall von "U-Turn" ist diese Methode nicht immer erfolgreich, der Film stampft zwischendurch etwas orientierungslos auf der Stelle; Stones Erzählmaschine mußte wohl an einem klassischen B-Picture-Stoff heißlaufen, der möglichst geradeheraus und nüchtern erzählt sein will und dem deshalb die Stilisierung zum satirischen Endzeitgefecht nicht recht steht. Über lange Strecken jedoch hält er die Balance zwischen Einhaltung des Genres und dem Spiel mit Formen, Typen und Zitaten.

Die hektisch fragmentierende Narration von Kamera, Schnitt und Ton, die im noch geradlinig angelegten "JFK" so penetrant wirkte, potenziert hier in den besten Passagen das prosaische Geschehen zu einem fast synästhetischen Geflecht aus Sprache, Bewegung, Bedeutung und sinnlicher Wahrnehmung - angefangen mit der, wie beim "neuen" Oliver Stone inzwischen gewohnt virtuosen Eingangssequenz, worin diesmal der drogenbenebelte Cooper auf die ernüchternde Realität prallt.

Genau wie David Lynch ist Oliver Stone - und das nicht nur neuerdings, sondern seit jeher - ein Schlachtenmaler der amerikanischen Wirklichkeit, weshalb konsequent ist, daß beide Regisseure sich trotz unterschiedlicher ästhetischer Herangehensweisen, sich nicht überschneidender Gesichtskreise und nicht zuletzt wegen zweier grundverschiedener Amerikabilder ins Gehege kommen. Ebenso konsequent ist, daß es nicht der eher hermetische Lynch, sondern der zunehmend raumgreifende Stone ist, der sich dem Vorwurf aussetzt, in fremdem Terrain zu wildern.

Klar auch, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, wann Stone in seine Ahnengalerie amerikanischer Archetypen und Mythologeme mit Präsidenten, Popstars, Börsengeiern, Vietnamkämpfern und Shotgunhelden die Helden des Kleinstadthorrors aufnehmen würde. All die Kerouac-Figuren, die Männer ohne Namen, die Easy Riders sowie Kowalski, der "letzte amerikanische Held" aus Monte Hellmans "Fluchtpunkt San Francisco", sind in Bobby Cooper versammelt, als er auf seiner Reise im ewigen Lynchville strandet, mag es nun Twin Peaks, Lumberton, Big Tuna oder eben Superior heißen. Selbst der Name der Hauptfigur erinnert frappierend an einen gewissen Agenten Dale B. Cooper, den es einst in den inzestuösen Mikrokosmos von Twin Peaks verschlug. Interessanterweise ist jener Name auch der einzige, der nicht aus dem zugrundeliegenden Roman von John Ridley ("Stray Dogs") übernommen wurde.

Der Westernheld kommt zu spät: Die Ausläufer der einst verrechtlichenden Institutionalität sind selber Wildnis geworden. Gerade als Cooper den verzweifelten Versuch startet, durch Zahlung seiner Schulden wieder ein größeres Gleichgewicht in jenes chaotische Mächtespiel zu bringen, das ihn bis dahin offensichtlich gut ernährt hat, verstrickt er sich in einer Art verdrehter Illegalität. So etwas tut man nicht: Honesty doesn't pay.

Was anfing wie ein klassisches Roadmovie, ist schnell ins Stocken geraten. Der umhertreibende Held erfährt nur da seine Freiheit, wo er sie sich selber erfährt, wo er seinen gefahrvollen Weg selbst gestalten kann; dann trifft er auf lustige Theaterkommunen oder nackte Mädchen auf Motorrädern. Sollte er aber angehalten werden oder gar feststecken, verfängt er sich im Dickicht der ländlichen Sitten.

Wie Eastwoods Mann ohne Namen betritt Cooper die mißtrauische Siedlung und läßt sich abwechselnd von den verfeindeten Parteien einspannen. Doch befindet sich dieser Held nun nicht mehr in der mythohistorischen Vorzeit der amerikanischen Zivilisation, sondern an deren äußerstem Ende, sowohl geschichtlich als auch topographisch, und wird von den widerstreitenden Prinzipien der Wildnis wie Gier, Mordlust, Skrupellosigkeit, Wahnsinn und Eros überwältigt und umhergeworfen, statt sie gegeneinander auszuspielen und sie dann wie noch der klassische Westernheld in einer mehr oder minder stabilen Balance zu institutionalisieren.

Fast war es eine Notwendigkeit, daß Ennio Morricone die Vertonung des Films besorgt, der Spezialist für Italowestern und Mafiathriller. Westernszenerie und neofeudale Strukturen, d.h. Früh- und Spätphase der vorzivilisatorischen Gesellschaft finden in der Geschichte wie im Score zusammen und lassen das bürgerlich-rechtsstaatliche Modell wie eine Durchgangsstation aussehen.

Darin konstituiert sich der Unterschied zu Lynchs Kleinstadtvisionen, worin der Held in die abgründigen Perversionen einer Kleinbürgeridylle einbricht, aber ohne große Blessuren wieder heraus in die Normalität findet. Zwar entwirft Lynch feinsinnige Barockfiguren gleich der Plastik des schönen Menschen, dessen Rückseite von Würmern zerfressen ist, doch er entwirft sie als Ausnahme, als etwas Überwindbares. Das Abgründige von Perversion, Wahnsinn und Inzest kann bei Lynch noch ins Exterritoriale, gar Außerweltliche abgeschoben und daher exorziert werden, in Superior gehört es zum Alltag des Dorflebens.

Das Skalpell mag das präzisere Instrument sein, aber es eignet sich vor allem dazu, faule Stellen sauber herauszuschneiden. Ein Gebäude bringt man dagen nur mit einem Vorschlaghammer ins Wanken.

U-Turn (USA 1997). R: Oliver Stone, D: Sean Penn, Nick Nolte, Jennifer Lopez. Start: 23. April