Rudis Reste-Rampe

Rudi Dutschkes Metamorphose ist typisch für die Mutation von der antiautoritären zur deutschen Linken.

Der Mythos Rudi Dutschke ist ein Selbstbedienungsladen. Während die einen von seinem leidenschaftlichen Engagement für die Weltrevolution und den Vietcong schwärmen, rühmen die anderen sein frühzeitiges Werben für die deutsche Einheit und die Grünen. Dutschkes Entwicklung war jedoch kein Ausdruck persönlicher Schizophrenie, sondern symbolisiert die Metamorphose, die die meisten 68er durchgemacht haben.

Natürlich könnte man dies auch an den Biographien von Antje Vollmer, Christian Semler oder Joscha Schmierer nachweisen, was auch deswegen von Interesse wäre, weil sich deren Nationalismus bis zum heutigen Tage nachverfolgen ließe. Doch deren "deutsche" Wende ist kaum denkbar ohne ihre frühe Aufkündigung der antiautoritären Phase, die Gründung stalinistischer Kaderparteien und die von China adaptierte Weltsicht, "im Kampf gegen die Supermächte" die nationale Befreiung in Indochina und Schwarzafrika mit der in Mitteleuropa gleichzusetzen. Man könnte so auf den Gedanken kommen, der Weg von der Rebellion zur Nation habe über Peking geführt, und das trifft sicherlich nur für eine Minderheit der 68er zu. Für die Mehrheit, die diese autoritäre Metamorphose nicht mitmachte, steht Dutschke.

Ob Rudi Dutschkes ein "deutscher Che Guevara" war, wie es in der Biographie von Jürgen Miermeister heißt? Auch wenn er selbst dieses schwülstige Pathos weit von sich gewiesen hätte, bleibt er doch für viele die Verkörperung des Internationalismus der Neuen Linken. Vielleicht wichtiger als seine oft verschachtelten und terminologisch überfrachteten Reden waren hierfür die charismatischen Bilder, die millionenfach durch die Presse gingen: Dutschke mit flammendem Blick vor der Fahne des Vietcong, Dutschke als mitreißender Redner beim Internationalen Vietnam-Kongreß oder Dutschke mit seinem Sohn, der als Hommage an Fidels Kampfgefährten den Namen Hosea Che trägt.

Che Guevaras Schrift "Schafft zwei, drei viele Vietnam" wurde 1967 von Rudi Dutschke mitherausgegeben und eingeleitet. Die Parole stand für den Prozeß globaler Emanzipation und resümierte eine Art revolutionäre Domino-Theorie: dem Vietcong müsse ein "amerikanischer, europäischer und asiatischer Cong" folgen, forderte Dutschke auf dem Vietnam-Kongreß im Frühjahr 1968. Und weiter: "Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!"

Nach dem Ende der APO vollzog sich in Dutschkes Denken ein Paradigmenwechsel, weg vom Internationalismus hin zum Nationalismus. Für das "Erlernen des aufrechten Gangs in Richtung Freiheit", phantasierte Dutschke, sei das "Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation sozialistisch zu konkretisieren." Von diesem Ansatz aus polemisierte er gegen die von der Brandt-Regierung mühsam durchgesetzte Fast-Anerkennung der DDR ("Grundlagenvertrag") und kritisierte die neue DDR-Verfassung wegen der Streichung des Begriffs "deutsche Nation".

Höhepunkt dieser Vorstöße war eine Aufsatzreihe im Politmagazin das da - avanti 1977/78 mit dem Start-Titel "Wer hat Angst vor der Wiedervereinigung?" Fast im Stil von CDU-Stahlhelmern postulierte er dort : "Die DDR ist zwar nicht das bessere Deutschland. Aber sie ist ein Teil Deutschlands. (...) Die deutsche Misere ist in eine linke Misere umgeschlagen (...) Die Entspannungspolitik der 60er Jahre war ein Schritt vorwärts, aber gleichermaßen einer zurück. (...) Auflösungsprozeß der geschichtlichen und nationalen Identität (...), Amerikanisierung und Russifizierung sind vorangeschritten. (...) Wie können wir jemals davon frei werden und auf eigenen Beinen gehen?" Von extrem rechts gab es emphatische Unterstützung. Der Nationalrevolutionär Henning Eichberg schrieb: "Rudi Dutschke hat etwas Systemoppositionelles getan (...). Er hat die nationalrevolutionäre Chance der deutschen Linken bezeichnet. (...) Nationalismus ist also nicht alt, sondern neu."

Politisch-praktisch wurde diese Konvergenz bereits ein Jahr später: Bei den Bremer Landtagswahlen engagierte sich Rudi Dutschke zusammen mit den National-Ökologen Gruhl und Springmann für die Wahl der "Bremer Grünen Liste" (BGL), in schroffer Abgrenzung zur linken "Alternativen Liste" (AL). Der Erfolg der BGL - einer grünen Gruppierung gelang erstmals der Einzug in ein Länderparlament, die AL landete abgeschlagen bei 1,5 Prozent - schuf auch Fakten im Konstitutionsprozeß der Grünen Partei. Das Bündnis "von Dutschke bis Gruhl" (taz) hatte sich gegen "leninistische und stalinistische Traditionen" (Dutschke über die AL) durchgesetzt. Dutschke starb im Dezember 1979, wenige Wochen nach diesem zweifelhaften Erfolg.

Will man nicht von einer Persönlichkeitsveränderung Rudi Dutschkes ausgehen, so müssen sich nationale Elemente auch in seiner internationalistischen Phase auffinden lassen. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung hat bei der Spurensuche einen wichtigen Aufsatz zutage gefördert, den Dutschke unter Pseudonym 1967 veröffentlicht hat. Das Spektakuläre dieses Artikels besteht in dem Gedankenmodell, Westberlin zu einem Fokus für revolutionäre und nationale Politik zu machen. Wörtlich heißt es dort: "Ein von unten durch direkte Rätedemokratie getragenes West-Berlin (...) könnte ein strategischer Transmissionsriemen für eine zukünftige Wiedervereinigung Deutschlands sein."

Als Vermittlungselement dieser Paradoxie, die zunächst die Weltrevolution postulierte und bei der "nationalen Befreiung" Deutschlands endete, läßt sich eine falsche Imperialismus-Theorie ausmachen: "Das Besondere dieser neuen Form des Imperialismus ist, daß er nicht mehr primär ökonomisch zu verstehen ist. (...) Das Herrschaftsinteresse bestimmt immer deutlicher das Profitinteresse (...) Beginnt die Bedeutung des Kapitalexports wesentlich zu sinken (...) permanente Krise des Systems (...) Der Imperialismus als Gesamtsystem ist total auf dem Rückzug. Er organisiert weltweite Rückzugsgefechte (...) Ihre einzige Legitimation (...) ist die blanke und brutale Macht, die der US-Imperialismus (...) anwenden muß." Da die internationalen Ausbeutungsbeziehungen nicht mehr als über das Wertgesetz vermittelte, sondern nur noch als Raubbeziehungen qua militärischer Gewalt gesehen werden, erscheint die nationale Unabhängigkeit über eine politisch-militärische Sezession als Ausweg. "Diese Form des nationalen Befreiungskampfes (...) ist nicht zu trennen von dem erreichten Stand der weltweiten Entwicklung der Produktivkräfte, von der Gesamtbewegung des Kapitals, das unfähig geworden war, sich überall einzunisten, die ganze Welt in eine Mehrwert heckende zu verwandeln."

Ausgerechnet Dutschke, der in seiner Dissertation Lenin "vom Kopf auf die Füße stellen" wollte, übernahm so schlechte ML-Traditionen: Die positive Bezugnahme auf die "Befreiung von Nationen", anstatt auf die von Individuen oder Klassen. Damit Dutschke die "nationale Befreiung" aber nicht nur für Vietnam, sondern auch für Deutschland fordern konnte, mußte zum simplifizierenden Imperialismus-Verständnis noch eine Verdrängungsleistung vollbringen: Vietnam war ein Opfer, Deutschland ein Verursacher moderner Barbarei.

Bei einem Großteil der APO-Jugend war der Ekel vor dem Nationalsozialismus und seiner Nichtbewältigung in der BRD konstitutiv für ihr politische Bewußtwerdung. Peter Brückner weist darauf hin, daß sich insbesondere die SDS-Mitglieder in Westberlin (durch den Argument-Club) und in Frankfurt (durch das Institut für Sozialforschung) auch theoretisch mit der NS-Zeit, der "Dialektik der Aufklärung" und dem Antisemitismus beschäftigt hatten.

Für Dutschke trifft das nicht zu. Dies wird schon bei seinen Überlegungen zum "autoritären Charakter" deutlich, die die vor allem von Erich Fromm unter diesem Stichwort verfaßten Studien zu den psychischen Fundamenten des Nationalsozialismus mißverstehen. Was er als Aktualisierung ausgibt, ist eine schlimme Verballhornung: Nach Dutschke hatte sich das Movens dieses Charaktertypus nämlich "Vom Antisemitismus zum Antikommunismus" (so der Titel eines seiner programmatischen Aufsätze) verschoben - das legte eine weitgehende Angleichung des kollektiven Unbewußten in allen westlichen Staaten nahe und paßte somit ins Konzept. Die Parole "USA - SA - SS" galt plötzlich als libertäre Zuspitzung des Antifaschismus, und die militante Störung eines Auftritts des israelischen Botschafters konnte denselben antiautoritären Anspruch reklamieren wie die einer NPD-Veranstaltung.

Diese Irrtümer resultierten aus der Weigerung, deutsche Geschichte und Gegenwart in ihren spezifischen Unterschieden zu anderen bürgerlichen Gesellschaften zu analysieren. Zum Nationalsozialismus schreibt Dutschke lapidar: "Meine christliche Scham über das Geschehen war so groß, daß ich es ablehnte, weitere Beweisdokumente zu lesen und mich mit einer allgemeinen Erkenntnis zufriedengab: Der Sieg und die Macht der NSDAP, das Entstehen des Zweiten Weltkrieges ist von dem Bündnis zwischen NSDAP und den Reichen (Monopolkapital) nicht zu trennen." Dagegen sei "in den Massen eine dumpfe (durch den Krieg vermittelte) antikapitalistische Stimmung vorhanden" gewesen.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, daß Dutschke die Entwicklung der deutschen Gesellschaft mit einer Passage von Bommi Baumann bilanziert, die jeder historischen Konkretion spottet: "Gerade die deutsche Arbeiterklasse ist von allen immer wieder verschaukelt worden, sei es nur von den Sozis oder von Mad-Hitler. Jeder ist gekommen und hat sie nun angeschissen, die Reihen durch, von rot bis schwarz, von links nach rechts, das ist in keinem Land so gelaufen wie in Deutschland, und da ist es klar, daß sie auf nichts mehr einsteigen." Diese Beschönigung von Antisemitismus und Nationalismus bei der breiten Mehrheit der Deutschen wurde durch spätere Studien nie korrigiert.

In seiner für den SDS erstellten Bibliographie revolutionärer Literatur ("von Karl Marx bis zur Gegenwart") werden über 100 Bücher vorgestellt, darunter aber nur eines zum Faschismus und kein einziges zum Holocaust. Verstärkend wirkte Dutschkes Orientierung an Marcuse und Bloch, für die die Analyse des Nationalsozialismus und seiner gesellschaftlichen Hinterlassenschaft nur eine marginale Rolle spielte, während der Einfluß der ganz von Auschwitz her denkenden "Frankfurter", Adorno und Horkheimer, schon allein deswegen begrenzt blieb, weil sie der APO sehr kritisch gegenüberstanden. Dutschke folgert: "Nicht die Kinder der 'Frankfurter Schule', sondern die Erwachsenen und Erwachsen-Werdenden mit Erfahrungen der staats-sozialistischen Deformation bestimmten den Charakter und das Ziel der Neuen Linken." Vermutlich liegt genau hier das entscheidende Problem.