Sozialdemokratic Convention

Die SPD-Idee, in Leipzig eine Kandidatenkür nach US-amerikanischem Vorbild zu veranstalten, scheiterte an den Darstellern in den Haupt- und Nebenrollen.

Da staunt selbst ein alter sozialdemokratischer Parteikämpe wie Hans-Ulrich Klose: "Fast ein bißchen überinszeniert" sei der Wahlparteitag in Leipzig, kommentiert der Hamburger das Geschehen in Halle 2 der neuen Leipziger Messe. Die Parteitagsbühnenbildner - doch, auch dafür muß es in der Bonner Baracke Spezialisten geben - haben die riesige Halle in eine Höhle verwandelt. Wände und Decke, dunkelblau verhängt, treten im Halbdunkel zurück, einzelne Punktstrahler lassen Parteivolk, Presse und Publikum als eine einzige große Masse erscheinen. Die Tische der Delegierten stehen enger als auf gewöhnlichen Parteitagen der Sozialdemokraten: Zusammenrücken, lautet die Devise, wir sind jetzt alle eine große Gemeinschaft, der Stamm der Es-Pe-De in Erwartung seines Häuptlings Schrö-Der.

Aber wann kommt er, der Erlöser aus sechzehnjähriger Schmach? Gestern abend hat man ihn schon gesehen. Im Fernsehen war er, hier, am selben Ort hat er die Vorbereitungen inspiziert. Seine charmante junge Frau war bei ihm - "Sein privates Glück, das werden Sie gerade mir glauben, muß schon jeder in die eigene Hand nehmen." So einer sagt, was er denkt, da kennt der nix.

Aus den Boxen hämmert der Sound der achtziger Jahre, von damals, als Helmut Schmidt noch Bundeskanzler war: "Love isn't always on my mind." Richtig, jetzt geht's um ernste Dinge, jetzt wird Politik gemacht. Wo bleibt bloß der Schröder?

Die Musik wird ausgeblendet. Die Unruhe steigt: Jetzt muß er aber wirklich bald kommen, der Gerd. Wer kommt statt dessen? Irgend so ein Sachse oder Sachsen-Anhaltiner, der will hier nächste Woche eine Wahl gewinnen. Sowieso gebongt, Wahl gewinnen, das ist unser Ding. Applaus.

Kommt jetzt der Gerd? Das gibt's ja nicht: Noch so'n Sachse, noch 'ne Wahl gewinnen, "Läibzisch zum Boomdown der neuen Länder gemocht", Applaus, ab dafür.

Jetzt kommt immer noch nicht der Gerd, sondern jetzt kommt die Dings, wie heißt die noch, die mit dem Hut, Heide Simonis. Den Hut hat sie heute gar nicht auf, und sie sagt: "Genossinnen und Genossen, jetzt kommt ..." - der Gerd? Nein: "... unsere Musik." Humor haben wir ja schon, wir Sozialdemokraten. Applaus.

Und da kommt die Musik auch schon. Eine rauschende Geigenkadenz stürmt durch den Saal, eine total laute Paukenparade haut drauf. Irgendwo hat man das schon mal gehört. Im Kino? "Titanic"? Egal, denn jetzt - Spot an -, jetzt kommt er, der Gerd. Da, auf dem großen Bildschirm kann man ihn schon sehen. Zu Fuß kommt er, der hat keine Berührungsangst. Der Oskar ist auch dabei, unser disziplinierter Oskar, der dem Gerd den Vortritt gelassen hat. Und jetzt kann man die beiden auch mit bloßen Augen sehen, Applaus!

Hände wollen geschüttelt werden, der Gerd bedient rechts, der Oskar links. Aber was ist denn plötzlich mit dem Beifall los? Das muß doch weitergehen, so geht das doch nicht, Genossen: Einfach aufhören zu klatschen, wenn der Gerd erst in der Mitte des Saals ist. Leute, Leute. Oder ist doch die Musik schuld, die alles mit Schmalzgeigen und Kinopauken zusuppt? Der Oskar schubst den Gerd ein bißchen, er soll mal schneller machen. Das mag der Gerd natürlich nicht, da guckt er ein bißchen biestig. Süß.

Jetzt haben der Gerd und der Oskar es bis zur Bühne geschafft, sie steigen rauf, und als der Oskar ihn an seinen Platz geschubst hat und das Geklatsche wieder einsetzt, kann der Gerd auch wieder lächeln, denn: Der Applaus gilt ihm, das kann einer wie der Gerd raushören, auch wenn die Musik immer noch alles zu-donnert. Da steht er im strahlenden Scheinwerferlicht und grinst und winkt, und neben ihm steht der Oskar, der winkt auch, aber grinst nicht. So geht das eine ganze Weile, bis die Musik vorbei ist. Der Applaus auch.

Dann geht der Oskar zum Rednerpult, aber nur um zu sagen, daß jetzt der Gerd dran ist. Der Gerd geht zum Pult - redet der etwa frei? Nein, jemand hat die Rede vorher da hingelegt, und der Gerd muß sogar ganz schön viel ablesen.

Er fängt gleich mit einem super Thema an: Kohl! Ab damit in die Geschichtsbücher! Stillstand! Gesellschaftsspalter! Wir Sozialdemokraten dagegen: Innovationen und Gerechtigkeit, Modernisierung, die Kraft des Neuen und nochmal Innovationen. Den Bühnenhintergrund dominiert ein riesiges Lichtobjekt, das einem AKW-Kühlturm nachempfunden ist. Während Schröder redet, verfärbt es sich langsam rot. Und Schröder redet lange, da hat man viel Zeit, darüber nachzudenken, was einem die Parteitags-Gestalter sagen wollten.

Jetzt redet der Gerd über den Benzinpreis! Was haben sich die anderen da gestritten, die Blödel! Aber Streit ist nicht sozialdemokratische Art, schon längst nicht mehr! "Wir wollen das Drei-Liter-Auto fördern", sagte der Gerd, "aber nicht den Benzinpreis zur Ursache neuer sozialer Ungerechtigkeit machen." Bravo! Für den Wahlkampf haben wir jetzt übrigens ein neues Logo: Das ist ein Gangknüppel, auf dem ist "Kohl" als Rückwärtsgang eingezeichnet, "Schröder" als Fünfter. Gut, was?

Obwohl, man muß ja zugeben: So sehr gut startet der Gerd heute nicht weg. Bißchen müde die Rede, hängt ein wenig hölzern an den Formulierungen. Sicher, geklatscht wird schon, aber die rechte Begeisterung kommt nicht auf. Vokabeln wie "Finanzierungsvorbehalt", "Beschäftigungsvorbehalt", das muß der doch wissen, daß die Gift sind für die Stimmung. Naja, Reden waren noch nie seine Stärke. In der zweiten Halbzeit kommt er dann immerhin etwas in Schwung, aber da ist schon fast eine Stunde vorüber.

Gut übrigens, daß der Schmidt gekommen ist, jawoll, Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, der nachher sogar noch eine Rede halten soll. Da kann der Gerd so schöne Sachen sagen wie: "Modell Deutschland - daran wollen wir anknüpfen" oder "Deutschland, gegründet auf Mut zu neuen Lösungen und auf soziale Gerechtigkeit". Das hat der Helmut nämlich schon vor zwanzig Jahren gesagt. Das gibt dann immer ordentlich Applaus.

Nach knapp zwei Stunden ist der Gerd fertig. 123mal hat er Zwischenapplaus gekriegt. Für einen Kanzlerkandidaten ist das schlechter Durchschnitt. Er guckt noch mal zum Helmut rüber, bevor er ausruft: "Die Zeiten sind erneut vorbei, in denen es so schien, als sei das Sozialdemokratische nicht machbar und das Machbare nicht sozialdemokratisch." Zwei Minuten 50 Sekunden Applaus. Na, immerhin.

Jetzt wird der Gerd gewählt. Geheim, alles ganz korrekt. Nach dem Mittagessen sind die Stimmen ausgezählt: 93,4 Prozent für Schröder, 24 Gegenstimmen, zehn Enthaltungen, zwei ungültige. Na, man kann sich ja vorstellen, wer das war. Die Jusos stänkern ja schon die ganze Zeit. Was er von dem Ergebnis hält, wird der Gerd später gefragt. Naja, sagt er, die, die gegen ihn gestimmt hätten, die müsse er halt noch überzeugen. Aber schließlich sind es ja auch nur 24, und was die denken, sei ihm eigentlich egal.

Jetzt ist der Helmut dran - der einzige Sozi, der noch weiß, wie das geht, Bundeskanzler. Da sind wir ja gespannt. Mann, sieht der alt aus. Vom "moralischen Verfall in vielen Quartieren der Gesellschaft" redet er, vom "politischen Schlendrian" und vom "schwer havarierten deutschen Schiff". Lang hält er sich bei den "Landsleuten im Osten" auf, die "fünfmal so lange unter Diktaturen haben leben müssen wie wir Westdeutschen" - und von denen war noch nicht mal jeder Leutnant.

Gar nicht leicht hat's an diesem Nachmittag der Wolfgang Thierse, der Ossi im SPD-Vorstand. Der muß einen ganz schrecklich roten Kopf kriegen, als der Helmut nicht nur den Manfred Stolpe in Schutz nimmt, sondern auch den Wolfgang Vogel, diesen üblen Menschenhändler: Die hätten schließlich mit der Stasi reden müssen, und dabei hätten sie um ihrer Aufgabe willen "so vieles auf sich genommen"; ein "echter Menschenfreund" sei der Vogel sogar. Ja, Herrgott nochmal, wie werden wir denn dastehen, wenn's das nächste Mal im Bundestag gegen Gysi geht? Und als ob das nicht reichen würde, haut der Oskar gleich drauf nochmal in dieselbe Kerbe. Die müßte man alle mal strafweise in den Bundestag sperren, wenn's um "Opfer der SED-Diktatur" geht.

Überhaupt, der Oskar, der ist ja schon 'ne Schote. Da lehnt der sich, nachdem sich der Gerd zwei Stunden lang abgemüht hat, mal eben ganz locker ans Rednerpult und, ja, reißt die Leute einfach mit! Hält da einfach so halb frei so eine halbe Rede - "ein paar ergänzende Worte" -, und auf einmal ist die Stimmung da, die der Gerd gern gehabt hätte. Da war der Gerd natürlich von den Socken.

Der Rest des Nachmittags war dann langweilig. Von den paar Rednern waren sowieso die Hälfte Jusos, die natürlich wieder rumstänkerten, von wegen Ausbildungsplatzabgabe und Arbeitszeitverkürzung, und das müßte alles ins Wahlprogramm. Denen hat dann aber der Rudolf Scharping gezeigt, wo seine Qualitäten liegen. Da wurde gar nicht lang gefackelt mit Abstimmungen über einzelne Programmpunkte, sondern es wurde gleich über alle Empfehlungen der Antragskommission auf einmal abgestimmt, und die hatte mit sozialromantischem Quatsch rein gar nichts am Hut. Die Mehrheit für die Kommissions-Empfehlungen war natürlich riesig, und die Jusos haben ganz schön dämlich aus der Wäsche geguckt.

Und damit war der Tag schon fast gelaufen. Am Schluß hat der Oskar dann nochmal einen guten Witz gemacht, und der ging so: "Jetzt haben wir eine ganze Menge Vorsprung vor dem Zeitplan. Das wäre eigentlich die Gelegenheit für den Parteivorsitzenden, eine einstündige Programmrede zu halten." Da ist der Gerd ganz kurz ganz blaß geworden. Aber dann hat er doch gemerkt, daß es nur ein Witz war.