»Wir meinen es doch gut«

Nicht nur in Schweden, auch in Norwegen wurde die Lobotomie fleißig angewendet. Meistens waren Frauen betroffen

Die Liste dessen, was der schwedische Staat seinen Bürgern in den letzten Jahrzehnten antat, reicht von der vorsorglichen Registrierung jüdischer Bürger während des Zweiten Weltkrieges bis hin zu Zwangssterilisationen von Menschen, die nicht ins sozialdemokratische Menschenbild paßten und von denen man daher auch nicht wollte, daß sie sich vermehrten. Als jüngst aufgedeckt wurde, daß psychisch Kranke bis weit in die siebziger Jahre hinein lobotomiert wurden, war die Entrüstung nicht nur in Schweden sehr groß. Das Verfahren der Lobotomie, ein chirurgischer Eingriff ins Gehirn, bei dem die Verbindung verschiedener Gehirnteile unterbrochen wird, war 1935 von einem portugiesischen Arzt entdeckt worden. Sehr rasch jedoch war sie wegen ihrer Nebenwirkungen umstritten: Der lobotomierte Patient verlor seine Interessen, konnte nicht mehr träumen, planen oder sich neue Ziele setzen und lebte häufig ein abgestumpftes Leben ohne emotionale Höhen und Tiefen. In der Sowjetunion wurde der Eingriff daher 1951 verboten.

Nicht nur in Schweden, sondern auch in Norwegen wurde die umstrittene Behandlung hingegen bis in die siebziger Jahre hinein fortgesetzt, obwohl die Risiken auch dort bekannt waren. In Norwegen waren seit 1941 Lobotomien durchgeführt worden, obwohl schon der erste Patient während des Eingriffs starb. Und dieser blieb auch in der Folgezeit riskant: Von den ersten 35 lobotomierten Frauen überstanden die Operation nur 17. Die Lobotomie führte dazu, daß die überlebenden Patienten kaum noch am Arbeitsleben teilnehmen konnten, weil sie - wie Ärzte schnell feststellten - nicht mehr in der Lage waren, Präsizisionsarbeit zu leisten. Hausarbeit hingegen konnte auch nach der Operation "mit Leichtigkeit erledigt" werden, was erklärt, warum die meisten Lobotomieopfer Frauen waren.

Dennoch galt der Eingriff den meisten Ärzten weiter als vertretbar, in Norwegen wurde er bis 1974 an 2 500 Personen durchgeführt. Das Verfahren war einfach: Die Operation wurde von einem Oberarzt formlos beschlossen, weder wurde ein zweiter Arzt hinzugezogen noch war ein Gegengutachten nötig. Daß die Lobotomie trotzdem kein "normaler" Eingriff war und selbst von Medizinern nicht so gesehen wurde, beweist der Brief eines leitenden Mitarbeiters im Gesundheitsamt vom September 1950. Darin wird der Zeitschrift Aktuell nahegelegt, auf eine geplante Reportage über Lobotomie zu verzichten. Begündung: "In der Bevölkerung findet man häufig das Urteil, daß in der Psychiatrie angeblich Mißhandlungen stattfinden. Solche Vorstellungen werden durch Bilder von Ärzten, die spitze Gegenstände durch die Augenhöhlen des Patienten in dessen Gehirn schieben, nicht abgeschwächt. Solche Bilder würden unter anderem dazu führen, daß es schwieriger wird, die Unterstützung von Angehörigen für eine solche Operation zu finden."

Ähnlich wie bei Zwangssterilisierten dauerte es auch bei den Lobotomierten lange, bis sie ihr Schweigen brachen. Vor einigen Jahren organisierten sich schließlich einige Lobotomie-Überlebende in der Selbsthilfegruppe Lobos, um vom norwegischen Staat Schadenersatz zu fordern. Eine eigens eingesetzte Kommission kam zu dem Ergebnis, daß "der Staat dazu nicht verpflichtet" sei. Immerhin habe der Eingriff damals als "medizinisch begründet" gegolten - obwohl er nicht in allen Krankenhäusern durchgeführt wurde, der Leiter der Neurochirurgie am renommierten Osloer Ulleval-Krankenhaus lehnte ihn beispielsweise vehement ab. Trotzdem schlug ein Staatsrat vor, pro Person einmalig 100 000 Kronen (etwa 25 000 Mark) zu zahlen. Für den Staat eine billige Lösung, denn nach Schätzungen von Lobos leben nur noch wenige hundert Lobotomieopfer.

Dieser Entschädigungs-Kompromiß wurde vor allem durch die uneinsichtige Haltung der lobotomierenden Ärzte möglich, die ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit mit plumpen Lügen verspielt hatten. Lediglich 800 Lobotomien seien in Norwegen durchgeführt worden, erklärten sie etwa, und das auch nur bis zum Jahr 1953. Zudem sei die Operation international üblich gewesen. In norwegischen Medien beschäftigt man sich allerdings nicht nur mit den von der Tageszeitung Dagbladet als Mörder bezeichneten Medizinern, sondern auch mit der Frage, wieso solche Zwangseingriffe in einer sich selbst für liberal haltenden Gesellschaft überhaupt möglich waren. "Lobotomien, Zwangssterilisationen und Isolierung, daran glaubte man, als wir noch Kinder waren. Natürlich meinte man es gut. Heute glauben wir an zeitlich unbegrenzte Untersuchungshaft für Asylbewerber ohne gültige Papiere, Zwangsgesetze für autistische Kinder und Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger. Und natürlich meinen wir es gut", kommentierte die norwegische Journalistin Sissel Benneche Osvold.

Denn für das Wohlergehen der arbeitenden, im staatlichen Sinne also "funktionierenden" Bevölkerung Norwegens galt und gilt, daß sie nicht übermäßig damit belastet wird, für die zu sorgen, die nicht "funktionieren". Daher wurde es lange als legitim angesehen, daß Familien auseinanderzureißen, Nicht-Seßhafte in Heime einzuweisen, Menschen gegen ihren Willen zu sterilisieren oder ihre Gehirne zu manipulieren seien. Es wird auch heute kaum akzeptiert, daß nicht jeder in die sozialdemokratische Vorstellung vom Idealmenschen passen will. "Wir sind uns einig darin, daß abweichende Lebensentwürfe eine Art Krankheit sind, die man mit Arbeitseinsätzen heilen kann", so Benneche Osvold.

Mit den öffentlichen Diskussionen um Zwangssterilisationen und Lobotomien ist Norwegen jedoch noch lange nicht am Ende der Vergangenheitsbewältigung. In einem Anfang des Jahres veröffentlichten Buch "En landevei mot undergangen" (Eine Landstraße Richtung Untergang) wird beschrieben, wie in Norwegen mit Sinti und Roma umgegangen wurde. Sie wurden bis lange nach Ende des Zweiten Weltkrieges zwangsumgesiedelt, kriminalisiert, sterilisiert, Kinder wurden ihnen weggenommen, um "das verbrecherische und minderwertige Genmaterial der Zigeuner" auszurotten.